(ots) - Der evangelische Reformator Martin Luther soll
auf dem Reichstag zu Worms 1521 gesagt haben: "Hier stehe ich und
kann nicht anders!" Die protestantische uckermärkische
Pfarrerstochter Angela Merkel steht in dieser Woche in Brüssel eine
ähnlich harte Auseinandersetzung bevor wie weiland dem
Augustinermönch und Bibelübersetzer aus Wittenberg. Beide müssen für
ihre Ãœberzeugung vieles auf sich nehmen, hart diskutieren, mit Engeln
und Teufeln, je nach dem jeweiligen Standpunkt. Doch Brüssel ist
nicht Worms, 2016 ist nicht das Jahr 1521. Einen blutigen, langen
Glaubenskrieg wird es um die europäische Flüchtlingspolitik ganz
sicher nicht geben. Aber Europa steht gleichwohl an einem Scheideweg:
Kann sich Merkels, inzwischen von vielen bekämpfte Idee des humanen,
für Flüchtlinge offenen Kontinents durchsetzen, mit allen Gefahren
und Unwägbarkeiten, die dies in sich birgt? Oder setzt eine Zeit der
Renationalisierung ein, eine Politik der Abschottung, des Zusperrens,
der abgesicherten Grenzzäune und - auch diese Stimmen gibt es - des
Schießbefehls? Wohl noch nie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs,
nach der Einigung West-Europas und nach dem Fall des Eisernen
Vorhangs sowie der EU-Osterweiterung war die nähere Zukunft des
"alten" Kontinents so unbestimmt, so unwägbar, so gefährlich offen.
Auf dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag wird über weit mehr
verhandelt als "nur" über eine Verteilung von Kriegsflüchtlingen nach
Kontingenten, als nur über die Sicherung der EU-Außengrenzen, als nur
über den Verbleib des Vereinten Königreichs im Club. Die Weichen für
die Zukunft Europas werden gestellt. So oder so. Wird es einsam um
Merkel im Haus Europa oder packen es die 28 Unionsstaaten doch
gemeinsam an? Die Crux an Merkels humaner Flüchtlingspolitik ist,
dass sie in Europa immer weniger Unterstützer findet. Nach Warschau,
Kopenhagen, Bratislava oder Prag ist nun auch der Regierungschef aus
Paris, Manuel Valls, von der Fahne gegangen. Oder genauer: Frankreich
saß nie wirklich mit im Boot von Merkel. Eingedenk der
Integrationsprobleme, vor allem mit Migranten aus Nordafrika, wehrte
sich die Grand Nation schon lange gegen eine Aufnahme einer größeren
Anzahl von Flüchtlingen. Nun ging Valls offen auf Gegenkurs zur
deutschen Kanzlerin. Horst Seehofer dürfte sein hintergründiges
Lächeln aufsetzen. Doch neben dem Gordischen Knoten, der in Brüssel
zu entwirren ist - oder eben nicht - muss die Kanzlerin auch mit dem
dramatischen Stimmungsumschwung in Deutschland umgehen. Vier Fünftel
der Deutschen meinen mittlerweile, dass Merkels Regierung die
Flüchtlingskrise nicht mehr im Griff habe. Weit, weit entfernt
scheinen die schönen Willkommens-Bilder vom September vom Münchner
Hauptbahnhof. Und in vier Wochen sind in drei Bundesländer
Landtagswahlen. Entweder kriegt Merkel jetzt noch die Kurve, dazu
gehört ein wirkliches Ergebnis aus Brüssel, oder die
Kanzlerinnen-Partei stürzt noch weiter ab als bisher schon. Die
Innen- und die Außenpolitik verschränken sich in dramatischer Weise.
Vielleicht ist es vor diesem trüben Hintergrund zumindest ein
erhellendes Zeichen, dass sich die in Syrien engagierten Parteien auf
der Münchner Sicherheitskonferenz auf eine Waffenruhe verständigt
haben. Noch ist das alles freilich nur ein Stück Papier, das dringend
mit Leben erfüllt werden muss. Ob sich die vielen widerstreitenden
Staaten, von Russland, den USA bis zur Türkei, Saudi Arabien und dem
Irak, nun wirklich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt
haben, steht dahin. Die Welt ist aus den Fugen geraten, da hat
Außenminister Frank-Walter Steinmeier leider recht.
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