(ots) - David Cameron hat bekommen, was er wollte:
Großbritannien darf künftig erstens die Wartezeiten für volle
Sozialleistungen an EU-Ausländer verlängern, zweitens das Kindergeld
an EU-Migranten senken, wenn die Kinder im Herkunftsland wohnen;
drittens darf das Land Banken laxer überwachen, als das die
Euro-Staaten tun. Und viertens können nationale Parlamente künftig
EU-Gesetze kassieren. Es ist ein Erfolg für den britischen Premier -
und der Beschluss zum Kindergeld ist auch sinnvoll für Deutschland.
Nur: Die Art, wie die Briten ihre x-te europäische Extrawurst
ausgehandelt haben, ist eine Ohrfeige für die europäische Idee. Denn
sie zeigt einmal mehr: In dieser EU sind die großen Staaten mehr wert
als die kleinen. Und die Großen nutzen das immer wieder rücksichtslos
aus. Diese Ungleichheit ist eine enorme Gefahr für die europäische
Einigung - in einer Zeit, in der dieses historische Projekt ohnehin
ernsthaft auf der Kippe steht. Die Arroganz der Großen ist
brandgefährlich für Europa, weil sie eine zentrale Hoffnung vieler
Europäer zerstört: die Hoffnung auf Chancengleichheit. In Wahrheit
hat nicht die gleichen Chancen, wer in Athen auf die Welt kommt statt
in Berlin oder in Prag statt in London. Denn, frei nach George
Orwell: Manche EU-Staaten sind gleicher als andere. Großbritannien
lähmt monatelang die gesamte Union mit der Drohung eines Brexit und
blockiert so die eigentlich bitter nötige tiefere europäische
Integration - und wird hofiert und am Ende zufriedengestellt.
Griechenland fordert nach der Abwahl der für den Niedergang des
Landes verantwortlichen Altparteien eine Lösung, um seine
Schuldenlast tragfähig zu machen - und wird dafür abgekanzelt und
muss die Bevölkerung weiter bluten lassen. Deutschland setzt 2008 und
2009, mitten in der Wirtschaftskrise, zwei dutzende Milliarden teure
Konjunkturpakete um, erhöht also mitten in Krisenzeiten seine
Staatsverschuldung massiv, um die Wirtschaft zu stützen - doch den
Ländern Südeuropas wird Ähnliches vewehrt. Stattdessen drückt man
ihnen ein Blut-und-Tränen-Sparprogramm auf, das Jobs vernichtet und
Millionen in die Armut stürzt. Die Sonderbehandlung der großen
EU-Staaten trägt auch dazu bei, dass kleinere Staaten jetzt, in der
Flüchtlingskrise, ihre Solidarität verweigern. Es ist aberwitzig,
wenn aus der deutschen Bundesregierung nun regelmäßig rhetorische
Giftpfeile in Richtung Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei
fliegen, weil diese Länder eine Kontingentlösung für Flüchtlinge
ablehnen. Dieselbe Bundesregierung hat sich jahrelang selbst gegen
solche Kontingente gewehrt - zu einer Zeit, in der sie viel leichter
zu organisieren gewesen wären als heute. Man kann es nicht oft genug
schreiben: Solange die Flüchtlinge wegen des himmelschreiend unfairen
Dublin-Verfahrens in Italien, Griechenland und Spanien landeten, war
Berlin europäische Asyl-Solidarität herzlich egal. Diese Arroganz der
Großen erklärt freilich nur zum Teil den nationalistischen Egoismus
der Kleinen oder vermeintlich Kleinen (Polen ist immerhin das EU-Land
mit der sechstgrößten Bevölkerung). Dieser Egoismus ist in erster
Linie hausgemacht: Mit ihm wollen die Regierenden einiger Staaten
heimische Probleme auf das böse Europa schieben - und das eigene
Versagen oder die eigene inhaltliche Leere mit anti-europäischer und
fremdenfeindlicher Rhetorik übertünchen. Aber gerade um die Parolen
der Scharfmacher und Anti-Brüssel-Schreier auf der Regierungsbank in
Warschau oder Budapest zu entlarven, wäre mehr Demut seitens der
Großen nötig. Die großen EU-Mitglieder müssen zulassen, dass nicht
mehr nur die Großen anschaffen in Europa - auch aus eigenem
Interesse. Denn wenn in den Hauptstädten von Lissabon bis Tallin das
Ungerechtigkeitsgefühl weiter wächst, dann zerbricht das einige
Europa. Und die Folgen wird ein Land ganz besonders stark zu spüren
bekommen: Deutschland.
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