(ots) - Als das osmanische Reich in den letzten Zügen
lag, machte der Begriff vom "kranken Mann vom Bosporus" in Europa die
Runde. Er drückte die Sorge darüber aus, wie dieses Land weiter
agieren würde, was an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident,
zwischen Asien und Euopa geschehen würde. Heute, 100 Jahre später,
ist die Sorge um die Türkei so aktuell wie damals. An der Reaktion
auf den gescheiterten Putsch gegen Recep Tayyip Erdogan wird sich
zeigen, mit was für einem Land wir es zu tun haben. Es gibt
Anzeichen, in welche Richtung der Staatschef denkt. Die Inhaftierung
von mittlerweile 6000 Menschen nach dem Aufstand, die Haftbefehle
auch gegen Richter haben den Charakter einer Säuberungsaktion, und
das, obwohl die Zahl der Putschisten offenbar gering genug gewesen
ist, um ihr Vorhaben mehr einem verzweifelten Versuch, denn einem
geplanten Vorgehen gleichen zu lassen. Geplant aber scheint die
Reaktion Erdogans, oder zumindest dürften die Ereignisse der
Freitagnacht einen willkommenen Anlass geliefert haben, mit Gegnern
in allen Ebenen der türkischen Gesellschaft abzurechnen. Der
Staatschef arbeitet seit Jahren daran, sein Land nach seinen
Vorstellungen umzugestalten. Widerstände, wie die Proteste 2013, ließ
er niederknüppeln, Freiheiten einschränken. Es ist eine ironische
Wendung, dass derselbe Mann, der am liebsten das Internet abschalten
lassen würde, weil dort Protest gegen ihn organisiert und Kritik an
ihm geäußert werden kann, auf der Flucht via Smartphone Kontakt zu
seinen Anhängern aufnahm. Erdogan ist kein Demokrat im westlichen
Sinne. Er benutzt den Krieg gegen den IS vor seiner Haustüre, um
gegen die kurdische Opposition vorzugehen. Er nutzt die Flüchtlinge
auf ihrem Weg nach Europa als Druckmittel für seine außenpolitischen
Vorstellungen und als Hebel zur Einflussnahme auf andere Staaten -
siehe die Affäre Böhmermann. Mit dem Putsch kann Erdogan seine
autokratischen Fantasien vollends ausleben. Es ist richtig, dass ein
großer Teil der türkischen Bevölkerung mit seiner Unterstützung für
den Staatschef eine große Rolle beim Scheitern des Putsches spielte.
Dass aber nun zehntausendfach auf Twitter per Hashtag die
Wiedereinführung der Todesstrafe für die Aufständischen gefordert
wird, und Erdogan selbst mit dieser Idee liebäugelt, zeigt, wie
brisant die Lage ist - und wie sehr eine moderierende Kraft an der
Spitze des Staats notwendig wäre. Die Türkei unter Erdogan ist immer
schon ein gespaltenes Land, das zwischen Moderne und
Rückwärtsgerichtetheit schwankt. Der Präsident will eine Annäherung
an die Europäische Union und hat mit dem Flüchtlings- deal einen
großen Schritt in diese Richtung gemacht. Doch ein Land, dass die
Todesstrafe einführen möchte, ein Land, dass nun vollends zu einer
gelenkten Demokratie werden dürfte, ist kein Partner für Europa. Ein
Staat, in dem das Militär aus Sorge um die Demokratie gegen die
Regierung putscht, ist genauso besorgniserregend wie ein Staat, in
dem ein Putsch von wem auch immer inszeniert wurde, um diesen als
Vorwand für eine Revolution von oben zu nutzen. Vieles hängt jetzt
davon ab, ob Erdogan überhaupt noch für den Rat eines anderen Staats-
oder Regierungschefs offen ist, ob er sich in seinem Zorn mäßigen
lässt oder nicht. Besonnenheit, nicht Härte wären infolge des
Putsches nötig. Der türkische Staatspräsident muss sich im Klaren
darüber sein, dass es seine Bürger waren, die sich gegen die
Putschisten gestellt haben - egal ob freiwillig oder nicht. Er darf
ihnen zum Dank die Freiheiten, die sie noch genießen, nicht in einer
Erdokratie entziehen.
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