(ots) - Die Zeiten sind vorbei, wo die osteuropäischen
Beitrittskandidaten möglichst widerspruchs- und reibungslos dem
Leitbild entsprechen wollten, das die westlichen Gründerstaaten
vorgegeben hatten. Nun fordern sie, die EU müsse sich ihren
Vorstellungen entsprechend zu einem losen Staatenbund wandeln. Die
meisten Alteuropäer und die EU-Kommission hingegen glauben, dass die
Schrecken der Globalisierung nicht durch nationale Abschottung zu
bannen sind. Luxemburgs Außenminister forderte gar, Ungarn aus der
Union zu werfen - und das wenige Tage vor dem Sondergipfel in
Bratislava, von dem ein Signal der Einheit Richtung Großbritannien
gesendet werden soll. In der EU kommt die ganze schmutzige Wäsche auf
den Tisch, nachdem ein Familienmitglied türenschlagend das Haus
verlassen hat. Ob die EU aus dieser tiefgreifendsten Krise ihrer
Geschichte gestärkt, geschwächt oder geschrumpft hervorgehen wird,
vermag heute noch niemand zu prophezeien. Klar ist nur, dass die Tage
säuselnder Diplomatie vorbei sind. Jetzt wird Klartext geredet.
Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo will Reformen, die es künftig
unmöglich machen, ihr Land an den EU-Pranger zu stellen, wie es
derzeit geschieht. Die EU-Kommission verlangt nämlich von Polen,
Bedenken gegen eine Entmachtung des Obersten Gerichts auszuräumen.
Andernfalls drohen Sanktionen. Ungarns Premier Victor Orban wiederum
versucht, seine Kritiker in Brüssel und den westlichen Hauptstädten
mit Volkes Stimme zu beeindrucken. In einem Referendum wird er am 2.
Oktober sein Volk fragen, ob es mit der von Brüssel verordneten
Flüchtlingspolitik einverstanden ist. Die Antwort dürfte eindeutig
ausfallen. Luxemburgs Außenminister meint deshalb, in seiner heutigen
Form hätte das Land keine Chance auf Aufnahme in die EU. Ähnliches
wird er vielleicht bald auch von Österreich sagen können, dessen
Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer von der FPÖ die Reformpläne
der Osteuropäer lautstark unterstützt - oder von Frankreich, dessen
Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen mit dem Austritt ihres
Landes aus der Eurozone liebäugelt. Hätten die westeuropäischen
Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur an den
kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolg und die Stimmung im Wahlvolk
gedacht, wären die meisten osteuropäischen Staaten noch heute keine
EU-Mitglieder. Doch den Wählern wurde erklärt, dass ein
prosperierendes Osteuropa mit einem sich dem EU-Durchschnitt
nähernden Lebensniveau mittelfristig allen Europäern nützen werde.
Das akzeptierten die Wähler der alten West-EU zwar nur
zähneknirschend, doch sie hielten den pro-europäischen Parteien im
Großen und Ganzen die Treue. Das Gefährliche an der jetzigen Lage
ist, dass nicht nur in den relativ jungen Mitgliedsstaaten des
Ostens, sondern auch in vielen Staaten der alten West-EU wie
Österreich, Frankreich oder Deutschland antieuropäische Programme
mehrheitsfähig sind. Die Grundsatzdebatte über die Zukunft Europas
muss jetzt geführt werden - auch wenn die Gefahr besteht, dass sie
die Union auseinanderreißt. Solange die grundsätzliche Frage nicht
beantwortet ist, wo sich die Europäer gemeinsam stärker fühlen und wo
sie künftig lieber wieder national entscheiden wollen, solange kann
die EU die vor ihr liegenden Aufgaben nicht stemmen. Die Warnung des
Luxemburger Außenministers ist berechtigt. Wer sich an der Wahlurne
dafür ausspricht, die Frontstaaten mit ihrem Flüchtlingsproblem
allein zu lassen, der soll wissen, dass er den Rauswurf aus der EU
riskiert. Denn eine Gemeinschaft, in der sich jeder selbst der
Nächste ist, nützt niemandem.
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