(ots) - 15 Prozent der Kinder in Deutschland sind zu
dick, weltweit sind 42 Millionen Kinder unter 5 Jahren übergewichtig
oder sogar fettleibig. Bei den Erwachsenen ist es jeder Dritte. Daher
haben der Verband der Kinder- und Jugendärzte sowie die WHO Alarm
geschlagen und eine Zuckersteuer gefordert, denn der Konsum von süßen
Erfrischungsgetränken gilt als eine der Ursachen für
Gewichtsprobleme. Oliver Huizinga, Experte für Kinderernährung bei
der Verbraucherorganisation foodwatch, sagt im Gespräch mit unserer
Zeitung, dass die Politik dringend Regelungen auf den Weg bringen
müsse. Andere Länder seien schon weiter. Er befürwortet eine
Zuckerabgabe für die Hersteller.
80 Liter zuckersüße Getränke konsumiert der Bundesbürger im
Schnitt pro Jahr. Welche Risiken birgt erhöhter Zuckerkonsum?
Oliver Huizinga: Gerade die zuckergesüßten Getränke sind ein
Sonderfall, denn schon vergleichsweise geringe Mengen erhöhen das
Risiko für chronische Krankheiten. Wenn man zum Beispiel täglich eine
Dose Cola trinkt, erhöht sich die Gefahr, Typ2-Diabetes oder
Fettleibigkeit oder andere chronische Krankheiten zu bekommen. Das
sind wirklich gefährliche Produkte. Daher ist es besonders wichtig,
dass die Politik hier Maßnahmen unternimmt, um den Zuckergehalt
dieser Getränke zu reduzieren und den Konsum zu verringern.
Ist es richtig, wie WHO und der Bundesverband der Kinderärzte
fordern, den Zucker zu besteuern - schließlich gibt es auch andere
Ursachen, die zu Übergewicht und Diabetes führen können?
Huizinga: Selbstverständlich gibt es dafür verschiedene Ursachen,
so, wie auch Lungenkrebs verschiedene Ursachen hat. Trotzdem ist es
richtig, dass man auch den Tabak, der nun mal Krebs verursachen kann,
gezielt besteuert, um den Konsum zu verringern, was auch
funktioniert, wie Statistiken belegen. Für die Zuckergetränke
schlagen wir eine Abgabe vor, d.h. die Hersteller zahlen - so wie es
in Großbritannien ab 2018 praktiziert werden soll - eine Strafe, wenn
sie besonders viel Zucker in die Getränke mischen. Damit wird ein
finanzieller Anreiz geschaffen, Rezepturen zu verbessern, also den
Zuckeranteil zu reduzieren. Die Einnahmen sollen dann zweckgebunden
verwendet werden, zur Förderung gesunder Kinderernährung.
Besteht dann nicht die Gefahr, dass diese Abgabe am Ende doch auf
die Verbraucher abgewälzt wird?
Huizinga: Das Hauptziel einer solchen Regelung ist, dass die
Hersteller den Zuckergehalt der sogenannten Erfrischungsgetränke
senken. Wenn sie das tun, müssen sie diese Abgabe nicht zahlen. Die
zuckerarmen, die zuckerfreien und die süßstofffreien Produkte wären
gar nicht von unserem Vorschlag betroffen, also bleiben diese Preise
stabil. Nur die Getränke, die Zuckerbomben bleiben, werden unter
Umständen teurer. Aber es handelt sich hier ja nicht um
Grundnahrungsmittel, sondern um Produkte, bei denen schon eine Dose
täglich das Risiko für Krankheiten erhöht. Und die müssen nicht so
günstig sein, dass schon Kinder sie palettenweise kaufen können.
Wie hoch sollte eine Zuckersteuer denn sein, damit sie wirkt,
schließlich ist Zucker eine sehr preiswerte Zutat?
Huizinga: Die WHO empfiehlt eine 20-prozentige Abgabe. Die
britische Regelung sieht vor, dass ab fünf Gramm pro 100 ml
Zuckerzusatz 18 Pence pro Liter fällig sind. Es sollte auf jeden Fall
ein hoher Betrag sein, denn schließlich sollen die Unternehmen
animiert werden, ihre Rezepturen zu überarbeiten. Andernfalls würden
Pepsi & Co. den Zuckergehalt nicht drastisch reduzieren. Das muss
schon betriebswirtschaftlich wehtun und nicht aus der Portokasse
bezahlt werden können.
Der Bund für Lebensmittelrecht und -kunde (BLL) betont, dass der
Zuckerkonsum seit Jahren konstant ist. Wird die Zutat, die viele
unserer Lebensmittel, auch Herzhaftes, versüßt, zu Unrecht
verteufelt?
Huizinga: Wenn die Lebensmittelindustrie behauptet, der
Zuckerkonsum sei konstant, dann ist das ein statistischer Trick und
nur die halbe Wahrheit, denn sie bezieht sich ausschließlich auf
Haushaltszucker. Andere Zuckerarten wie Glukose sind in dieser
Statistik nicht enthalten. Der Zuckerkonsum ist keineswegs konstant,
ganz im Gegenteil. Glukose zum Beispiel ist von 1,5 Kilogramm in den
60er-Jahren auf mittlerweile zehn Kilogramm pro Kopf pro Jahr
gestiegen. Das wird von der Industrie gern verschwiegen, weil sie den
Mythos aufrechterhalten will, der Zucker sei ja gar nicht so schlimm.
Das sehen nicht nur wir anders, sondern auch die WHO, Diabetologen,
Adipositas- und Kardiologen-Verbände, die Krebsgesellschaften - alle
medizinischen Fachleute sprechen hier mit einer Stimme, doch die
Industrie behauptet einfach das Gegenteil.
Sind zuckerreduzierte oder zuckerfreie Getränke, die Süßstoffe
enthalten, eine Alternative? Huizinga: Das ist noch sehr umstritten.
Es ist möglich, dass beim Konsum solcher Getränke ein anderer Effekt
eintritt: Der süße Geschmack, den wir trotzdem haben, suggeriert dem
Körper, dass er Kalorien bekommt, und wenn diese ausbleiben, will er
sich die "vermissten" Kalorien an anderer Stelle besorgen, also essen
oder trinken wir mehr. Das ist noch nicht ausreichend erforscht. Was
auf jeden Fall zutrifft, ist, dass auch hier eine Süßgewöhnung
entsteht, die dazu beiträgt, dass wir uns zuckerreicher ernähren.
Wirklich gesunde Getränke sind also nur Wasser und ungesüßte Tees.
Wie steht es mit der Eigenverantwortung der Verbraucher: Darf die
Politik Ernährungsweisen vorgeben?
Huizinga: Es geht hier nicht um Vorschriften für uns
Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern darum, dass derzeit die
Anreize, sich ungesund zu ernähren, allgegenwärtig sind. Dazu tragen
das Marketing der Lebensmittelwirtschaft, das sich an Kinder richtet,
die unverständliche Kennzeichnung und die jederzeitige Verfügbarkeit
von sehr stark verarbeiteten, zuckerreichen Produkten bei. Diese
Anreize sollten durch solche ersetzt werden, die eine gesunde
Ernährungsweise erleichtern: Bessere Rezepturen, bessere
Kennzeichnung, weniger manipulative Werbung.
Einige Politiker setzen auf das Motto "Bildung statt Zucker" und
wollen mehr Aufklärung in Kindergärten und Schulen. Wäre das eine
Alternative?
Huizinga: Es gibt schon seit einigen Jahrzehnten solche Programme,
doch die funktionieren leider nur sehr begrenzt. Natürlich ist es
wünschenswert, mit Aufklärung und Bildung die globale Epidemie von
Adipositas und Diabetes zu bekämpfen. Doch mit Bildungsmaßnahmen und
ein paar Unterrichtsmaterialien allein wird man nicht viel ändern.
Deshalb fordern auch die WHO und andere Fachverbände Maßnahmen, die
darüber hinausgehen. Zum Beispiel eine bessere Kennzeichnung der
Nährwerte, eine, die die Verbraucher auch verstehen, und eine
Beschränkung der an Kinder gerichteten Werbung, aber auch finanzielle
Anreize für Hersteller, damit sie weniger Zucker verwenden.
Die Werbung spielt eine große Rolle bei der Auswahl von
Lebensmitteln, suggeriert oft gesundheitsfördernde Eigenschaften, und
verdeckt schlechte. Sollte der Gesetzgeber hier eingreifen?
Huizinga: Ja, absolut. Das größte Problem, das wir im Bereich der
Werbung haben, ist, dass sie sich mit ungesunden Produkten direkt an
Kinder wendet. Wir wissen, dass die Hersteller mit ungesunden
Produkten das meiste Geld verdienen. Die Gewinnmargen bei
Süßgetränken und Knabberartikeln sind drei- bis viermal so hoch wie
bei Obst und Gemüse. Daher haben die Hersteller ein großes Interesse
daran, Kinder schon frühzeitig an diese kalorienreichen Produkte zu
gewöhnen. Geschmack und Vorlieben werden auf diese Weise langfristig
geprägt. Nur ein Bruchteil der Werbeausgaben betrifft gesunde
Lebensmittel wie Obst oder Gemüse. Eine Beschränkung der Werbung ist
daher dringend geboten, andere Länder machen das auch schon,
Deutschland hinkt hier meilenweit hinterher.
An welche Länder und Beispiele denken Sie? Huizinga: In Schweden
und auch in Großbritannien gibt es Einschränkungen für
Fernsehwerbung, die sich an Kinder richtet. In Chile gibt es ein noch
strikteres Gesetz, das auch andere Werbeformen einschließt. Wir
wissen, dass an Kinder gerichtetes Marketing diese stark beeinflusst,
deshalb ist es auch logisch, dass Veränderungen von
Marketingstrategien einen positiven Effekt auf die Konsumpräferenzen
haben können. Die Bundesregierung lehnt solche Werbebeschränkungen ab
und tut so, als wäre das eine Bevormundung der Verbraucher. Wenn die
Lebensmittelindustrie schon kleine Kinder, die leicht zu manipulieren
sind, mit Werbebotschaften bombardieren darf, ist das doch eher als
Bevormundung anzusehen.
Ist es denn richtig, Zucker zu besteuern, schließlich sind auch zu
viel Fett und zu viel Salz gesundheitlich bedenklich?
Huizinga: Ja, das stimmt. Es sind auch noch andere Maßnahmen
notwendig. Auch Werbung für Fastfood oder Junkfood sollte wegen des
hohen Fett- und Salzgehalts eingeschränkt werden. Es sollte für
solche Produkte keine an Kinder gerichtete Werbung und auch keine
Werbung mit Gesundheitsversprechen geben. Dafür gibt es bereits ein
Nährwert-Modell von der WHO, das man hier anwenden könnte. Die WHO
hat sehr gute Kriterien für die Bewerbung von Lebensmitteln
bereitstellt. Bislang aber lehnen es die Bundesregierung und die EU
ab, diese umzusetzen.
Was halten Sie von der Lebensmittelampel auf Produkten, die über
Zucker-, Salz und Fettgehalt informiert? Huizinga: Neben
Sonderabgaben und Werbebeschränkungen wäre eine Kennzeichnung eine
dritte Säule, die eine gesunde Ernährung fördern kann. Die
Lebensmittelampel wäre ein sehr gutes Modell gewesen, endlich
Transparenz darüber zu schaffen, wie viel Zucker etc. tatsächlich in
den Produkten enthalten ist. Auch die Vergleichbarkeit von Produkten
wäre dann einfacher mit einer farblichen Kennzeichnung auf der
Vorderseite der Verpackung. Aber die Wirtschaft hat sich mit allen
Mitteln dagegen gestellt und hat mit einer beispiellosen
Lobbykampagne erreicht, dass diese Kennzeichnung nicht eingeführt
wurde. Und das, obwohl Krankenkassen, Verbraucherverbände,
Ärztevereinigungen und die Mehrheit der Verbraucher die Ampel gewollt
haben. Die Politik muss endlich aufhören, der Lebensmittelwirtschaft
auf den Leim zu gehen - und anfangen, auf die medizinischen Fachleute
und die WHO zu hören.
Das Interview führte
Dietlinde Terjung
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
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