(ots) - Europa sei eine Frau mittleren Alters, die
mehrere Herzinfarkte hinter sich habe und gerade die größte
gesundheitliche Krise ihres Leben erleide, spottete der britische
Historiker Timothy Garton Ash. Sollte das Freihandelsabkommen mit
Kanada wirklich am Widerstand aus der belgischen Provinz scheitern,
dann hätte sich die Dame wohl endgültig bis auf die Knochen blamiert.
Vor den eigenen Bürgern und auf internationalem Parkett. Die Frage
drängt sich auf, was kann die schwer angeschlagene Gemeinschaft der -
bis zum endgültigen Brexit noch - 28 Staaten denn überhaupt noch
reißen? Das großartige Projekt Europa, dass die Lehren aus
Jahrhunderten verheerender Kriege, von Nationalismus und Hass, aber
auch von Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten zog, droht durch
Kleinkariertheit, nationale Zwistigkeiten und Angstphobien gelähmt zu
werden. Wenn das Freihandelsabkommen mit Kanada wirklich scheitern
sollte, dann liegt das nicht nur an der Widerborstigkeit der
belgischen Wallonie gegen Ceta, sondern auch am
Zuständigkeitswirrwarr in der EU, an der Entfremdung der
EU-Institutionen sowie der Regierungen von ihren Bürgern. Noch gibt
es eine klitzekleine Chance, fairen Freihandel mit Kanada zu
begründen. Doch die muss nun entschlossen genutzt werden. Die Zeit
ist verdammt knapp. Die Blamage, die sich jetzt abzeichnet, ist
freilich eine mit Ansage. Der Widerstand gegen das geplante Abkommen
mit Kanada wird nicht erst seit dem Nein des Regionalparlaments der
Wallonie, sondern bereits seit ein paar Jahren laut auf den Straßen
skandiert. Gegen Ceta, aber erst recht gegen das folgende, noch
umfangreichere Vertragswerk TTIP mit den USA. Für viele ist Ceta
schlicht die Blaupause für den Freihandelsvertrag mit den USA, was so
pauschal nicht stimmt. Viele der Befürchtungen, die da teilweise auch
sehr populistisch und ohne genaue Kenntnis des Ceta-Vertrages
vorgetragen werden, sind nicht stichhaltig. Andere geben dagegen
schon Anlass zur Sorge. Es ist auch die großspurige Geheimniskrämerei
um die Freihandelsabkommen, die fehlende Öffentlichkeit, die den
Widerstand gegen die Verträge nährt. Dabei hätte die EU genau
genommen die Mitgliedsländer gar nicht über Ceta befinden lassen
müssen. Der Außenhandel ist nach dem Lissaboner Vertrag Sache der
Europäischen Union. Doch das ist graue Theorie. Es waren Horst
Seehofer und Sigmar Gabriel, die am lautetsten dagegen aufbegehrten,
dass Brüssel den Vertrag gleichsam ohne Votum der nationalen
Parlamente absegnen wollte. Und in der Tat wäre Ceta ohne Zustimmung
des Bundestages ein nicht hinnehmbarer Akt des Überstülpens durch
Brüssel geworden, der erst recht zum Scheitern des Vertrages geführt
hätte. Noch strikter föderal verfasste Staaten als Deutschland, wie
eben das vom flämisch-wallonischen Konflikt gezeichnete Belgien,
können so unter der Hand zu Bremsern der Entwicklung werden. Doch
wenn die Langsamsten das Tempo bestimmen, kommt der europäische
Karren nur langsam oder überhaupt nicht vom Fleck. Deutschland ist
gar nicht so weit weg von der aufmüpfigen Wallonie, auf die nun alle
mit dem Finger zeigen. Das Werben der politischen Akteure für Ceta
hielt sich auch hier in engen Grenzen. Gabriel lehnte sich zwar weit
hinaus, doch von Merkel waren Reden mit Leidenschaft nicht zu hören.
Ob die Bundesländer Ceta passieren lassen werden, ist ebenfalls
unklar. Noch steht nicht einmal fest, ob es des Votums der
Länderkammer überhaupt bedarf. Und die eigentlich mächtigen
Wirtschaftsverbände, etwa der Bundesverband der deutschen Industrie,
halten sich in den öffentlichen Debatten, reichlich abgehoben,
zurück.
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