(ots) - Jetzt ist es dann wohl bald weg, das Lager von
Calais. Die Bilder aus Nordfrankreich, von den Hütten und Zelten am
Rand verschlammter Wege werden nicht mehr durch die Wohnzimmer
flimmern. Lkw-Fahrer auf dem Weg nach Großbritannien werden nicht
mehr erleben müssen, dass Flüchtlinge Planen aufschlitzen, sich auf
ihren Ladeflächen verstecken, dass sie Leichen von Migranten finden.
Der Dschungel von Calais wird weg sein, so wie das Lager im
nordgriechischen Idomeni jetzt weg ist. Die Flüchtlinge werden
andernorts unterkommen, es wird neue Lager geben, vielleicht
kleinere, weniger sichtbare. Aber die eine große Frage wird
unbeantwortet bleiben: Wie will Europa umgehen mit den Menschen, die
hier Zuflucht suchen? Sie kommen ja weiter an: Am Montag erreichten
Boote voller Menschen Sizilien - 4000 von ihnen lebendig, 15 als
Leichen. Allein in Italien waren es in diesem Jahr 153 450 Menschen.
In Calais zeigt sich vieles von dem, was in der europäischen
Flüchtlingspolitik falsch läuft. Die Mitgliedsländer der EU sind
nicht in der Lage, eine gemeinsame Lösung zu finden für die Aufnahme
der wenigen tausend Menschen, die in Calais hausen, im größten Slum
des Kontinents, wie ihn viele Beobachter nennen. Was für ein
jämmerliches Bild für eine Staatengemeinschaft, die sich auf die
unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der
Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität gründet. So steht es
wörtlich in der Grundrechte-Charta der EU. Menschenwürde, Freiheit,
Gleichheit, Solidarität: von wegen. Die Asylpolitik in Europa folgt
seit Jahren vor allem einem Prinzip: aus den Augen, aus dem Sinn.
Diesem Prinzip ist Deutschland jahrelang gefolgt, indem es über das
Dublin-Verfahren die Verantwortung für die Asylbewerber aus Afrika
und Nahost auf Spanien, Italien und Griechenland abschob - das war
nicht mehr als nationaler Egoismus, was auch Bundeskanzlerin Angela
Merkel kürzlich zugegeben und immerhin bedauert hat. Dem
Aus-den-Augen-Prinzip folgen jetzt die sogenannten Visegrad-Staaten
Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, indem sie sich der Aufnahme
von Flüchtlingen quasi komplett versperren. Und auch der
Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei dient vor allem diesem Zweck:
die Syrer, Afghanen, Iraker von Europa fernzuhalten - aus den Augen,
aus dem Sinn. Es gibt viele Menschen, die es für goldrichtig halten,
nach diesem Prinzip zu handeln. Die davon sprechen, dass man
Flüchtlinge durch eine noch stärkere Abschottung der europäischen
Außengrenzen und schlechte Lebensbedingungen in europäischen
Flüchtlingslagern "abschrecken" müsse, dass die Europäer Bilder vom
Elend außerhalb der Grenzen des Kontinent "aushalten" müssten. Das
mag einfach und schlüssig klingen. Es ist aber falsch. Nicht nur,
weil es inhuman ist - sondern, weil dieses Abschrecken nicht
funktioniert. Das haben die vergangenen Jahre gezeigt. 1993
verschärfte Deutschland das Asylrecht massiv, später wurde auf
EU-Ebene das Dublin-Verfahren eingeführt. Es wurden Zäune errichtet
in der spanischen Exklave Melilla, Abkommen abgeschlossen mit
Diktatoren wie dem Libyer Ghaddafi und dem Ägypter Mubarak. Und doch
sind die Menschen weiter über das Mittelmeer geflüchtet, sind zu
Tausenden ertrunken und zu Hunderttausenden angekommen. Die - für
viele Europäer bittere - Wahrheit ist: Die Flucht vieler Menschen aus
Armut und Krieg nach Europa lässt sich auf absehbare Zeit nicht
verhindern. Die Europäische Union sollte sich jetzt zwei große Ziele
setzen. Das kurzfristige Ziel sollte mehr legale, kontrollierte
Migration nach Europa sein. Das wäre der einzige Weg, um die
illegale, unkontrollierte Migration einzudämmen. Langfristig müsste
die EU die Fluchtursachen so bekämpfen, dass daraus mehr wird als
eine Floskel auf Parteitagen. Es darf nicht sein, dass der deutsche
Export von Kleinwaffenmunition weiter explodiert - und dass
europäischer Außenhandel die Lebensgrundlagen vieler Menschen in
Afrika weiter zerstört. Doch das ist Wunschdenken im Europa der
nationalen Egoisten, die nur das eine denken: Aus den Augen, aus dem
Sinn.
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