PresseKat - Landeszeitung Lüneburg: "Ohne sozialen Schub geht es nicht" - Gregor Gysi fordert Reforme

Landeszeitung Lüneburg: "Ohne sozialen Schub geht es nicht" - Gregor Gysi fordert Reformen in Deutschland und Europa - "Wir müssen die EU retten"

ID: 1420428

(ots) - Rente erst mit 71 Jahren? Diese Forderung der
"Wirtschaftsweisen" zur weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters
hat für Kritik gesorgt. Gregor Gysi betont im Gespräch mit unserer
Zeitung, dass "wir bei der Rente dringend eine Lösung brauchen". Denn
das Renteneintrittsalter könne nicht immer weiter nach hinten
verschoben werden. Der Linken-Politiker fordert, dass alle Bürger mit
Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen
müssten.

Herr Gysi, freuen Sie sich schon auf Rot-Rot-Grün in Berlin?

Gregor Gysi: Freuen wäre der völlig falsche Ausdruck. Aber ich
halte das für historisch notwendig. Wenn wir die AfD überwinden
wollen, muss die Union wieder eine konservative Partei werden, was
sie heute nicht mehr richtig ist. Die SPD muss wieder
sozialdemokratisch werden, was sie heute auch nicht mehr ist. Alle
haben ihre historische Aufgabe. Und wir brauchen einen sozialen Schub
in Deutschland - schon, damit die, die sich abgehängt fühlen, nicht
länger meinen, sie müssten aus Protestgründen AfD wählen. Aber, mit
Vergnügen hat das wenig zu tun.

Aber man kann doch sagen, dass die AfD die Linke als Protestpartei
abgelöst hat?

Gysi: Wir waren in der Regierung in Mecklenburg-Vorpommern, sind
es bald wieder in Berlin, sind in der Regierung in Brandenburg und
stellen den Ministerpräsidenten in Thüringen. Dann giltst du nicht
mehr als Protestpartei, auch wenn du noch so viele radikale soziale
Forderungen stellst. Ich sage immer zu meinen Leuten:  Die Zeit ist
vorbei, wir müssen neue Wählerinnen und Wähler gewinnen. Aber wenn
wir die AfD überwinden wollen, muss es wirklich einen sozialen Schub
geben. Wir haben den größten Niedriglohnsektor in Europa, wir haben
so viele prekär Beschäftigte - das geht nicht länger gut. Diese
Menschen haben Angst, dass sich keiner um sie kümmert, dass sich




niemand für sie interessiert. Sie wissen ganz genau: Von der CSU bis
zur Linken ärgern sich alle über die Stimmen für die AfD am meisten.
Schon deshalb wählen sie die AfD - damit wir uns ärgern und wir uns
um sie kümmern.

Haben Sie Verständnis für CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer, der
scharf kritisiert hat, dass Herr Gabriel am
rot-rot-grünen  Planungstreffen teilgenommen hat?

Gysi: Nein, da habe ich null Verständnis. Das geht ihn auch gar
nichts an. Er geht ja auch zu vielen Treffen, ohne dass sich Gabriel
darüber aufregt. Er muss etwas Toleranz entwickeln.

Wie tolerant waren Sie denn gegenüber Wallonien?

Gysi: Ich bin tolerant, auch gegenüber Wallonien. Strukturell  ist
es spannend, dass ein so kleiner Teil der EU Ceta hätte verhindern
können.  Ich halte Ceta für einen Fehler. Aber meine Sorge ist  noch
eine ganz andere. Meine Sorge ist, dass die Mehrheiten in den
verschiedenen Bevölkerungen der Mitgliedsländer  immer stärker die EU
ablehnen. Ich glaube, sie ist wirklich in Gefahr. Ich kritisiere die
EU scharf,  sage aber gleichzeitig, wir müssen sie retten. Ich sage,
die EU ist unsozial, undemokratisch, ökologisch nicht nachhaltig,
intransparent  - was auch die Ceta- und TTIP-Verhandlungen gezeigt
haben - und auch noch bürokratisch. Warum müssen wir die EU retten?
Aus vier Gründen: Erstens haben wir eine Jugend, die europäisch
aufgewachsen ist. Die meisten sprechen recht gut Englisch, haben im
Ausland mal ein Praktikum gemacht oder studiert. Stellen Sie sich
vor, wir kommen wieder zu den alten Nationalstaaten zurück - überall
Grenzzäune, Pass vorzeigen, vielleicht noch Visum - das klingt für
unsere Jugend so was von absurd, das können wir ihr nicht zumuten.
Zweitens: Wenn wir die alten Nationalstaaten wiederbekommen, spielen
wir ökonomisch im Verhältnis zu den USA und China keine Rolle mehr.
Das Gleiche gilt drittens für den politischen Einfluss. Der vierte
Grund ist der entscheidende: Es gab noch nie zwischen zwei
Mitgliedsländern der EU einen Krieg, solche Kriege haben vorher
unsere Geschichte geprägt.

Was sagen Sie denn den Schülern auf die Frage, ob sie in zehn
Jahren noch EU-Mitbürger sind?

Gysi: Ich hoffe. Was ich dafür tun kann, werde ich tun. Dass
Großbritannien die EU verlässt, ist gar nicht gut. Aber es ist noch
keine Katastrophe. Aber wenn Frau Le Pen die Wahlen zur
Präsidentschaft in Frankreich im März gewinnt und umsetzt, dass
Frankreich die EU verlässt, ist die EU mausetot. Das darf nicht
passieren. Ansonsten werde ich den Schülern sagen, dass sie die EU
natürlich sozialer, demokratischer, ökologisch nachhaltiger und
unbürokratischer machen müssen. Und  dann werde ich ihnen sagen, dass
sie endlich wieder anfangen sollen, etwas rebellischer zu werden,
die Jugendzeit mehr zu genießen. Den Alten sage ich übrigens, ihr
müsst lernen, das Alter zu genießen. Ich bin übrigens entschlossen,
das zu tun.

Wie lange bleiben Sie denn noch in der Politik aktiv?

Gysi: Das kann ich Ihnen erklären: Ich muss Alterspräsident des
Bundestages werden. Dann darf ich die Eröffnungsrede halten - und
dann quatsche ich alle in Grund und Boden. Nein, im Ernst: Man muss
den richtigen Zeitpunkt finden. Ich habe als Fraktionsvorsitzender
aufgehört, weil ich im Unterschied zu anderen nicht erst gehen
wollte, wenn ich tief im Keller bin.

Aber Bundespräsident wollen Sie nicht werden?

Gysi: Ich bin überhaupt kein präsidialer Typ. Langweilige
Eröffnungsreden liegen mir nicht. Vor allem kenne ich die
Zusammensetzung der Bundesversammlung, wir brauchen also nicht
darüber zu diskutieren.

Obwohl - ein Rebell  in dem Amt wäre vielleicht nicht schlecht.
Gysi: Ja, das wäre gar nicht schlecht. Der Bundespräsident hat im
Wesentlichen  eine repräsentative Funktion - allerdings mit der
Aufgabe, Einfluss auf den Zeitgeist zu nehmen. Wenn Sie etwas
verändern wollen in der Gesellschaft, müssen Sie immer als Erstes den
Zeitgeist erreichen. Wenn der sich ändert, ändert sich auch die
Politik.

Wie sollen denn Schüler oder Studenten rebellischer werden?

Gysi: Sie müssen sich organisieren, sie müssen über ihren Schatten
springen. Wenn es zum Beispiel ein gemeinsames Anliegen der linken
und der konservativen Studentengruppen gibt, dann müssen sie es auch
mal zusammen machen, zusammen für die Sache streiten. Ohne
Organisation geht es nicht. Und dann muss man sich etwas einfallen
lassen. Allein ein Protest bringt nichts, man muss die
Medienaufmerksamkeit erreichen. Ein Beispiel: 300 Bäckermeister haben
sich mal an mich gewandt und mir gesagt, sie hätten zehn politische
Forderungen. Ich habe ihnen gesagt, zehn könne sich kein Politiker,
kein Journalist merken, fünf reichen. Die Bäckermeister wollten dann
einen Brief mit diesen Forderungen an die Kanzlerin schicken. Ich
riet ihnen ab, denn dann gäbe es höchstens einen Eingangsvermerk vom
Kanzleramt. Ich fragte sie, ob sie es organisieren könnten, dass alle
Bäckereien an drei Tagen hintereinander geschlossen blieben. Denn
dann gäbe es eine riesige mediale Aufmerksamkeit, und auch der
Regierungssprecher müsste zu den Forderungen öffentlich Stellung
nehmen. Die Bäckermeister sagten mir, dass könnten sie leider nicht
schaffen. Ich sagte ihnen, genau das sei ihr Problem: Sie sind zu
wenig organisiert. Ich wünschte mir, dass sich mehr Menschen
organisieren, sich etwas einfallen lassen, wie man Medien erreicht -
nicht mit Krawallen, sondern mit intelligenten Ideen. Dann würden
sich bestimmte Dinge vielleicht schneller ändern.

Es gibt eine große Politikverdrossenheit im Land, aber noch immer
Interesse an Politik?

Gysi: Es gibt keine Verdrossenheit gegenüber Politik, sondern
gegenüber Politikerinnen und  Politikern. Genau das nutzt die AfD so
stark. Und genau deshalb sage ich, dass wir einen großen sozialen
Schub in Deutschland brauchen.

Gehört auch eine echte Rentenreform zu diesem Schub?

Gysi: Bei der Rente brauchen wir dringend eine Lösung. Das
Renteneintrittsalter kann nicht immer weiter nach hinten verschoben
werden. Wir müssen der jungen Generation sagen: Wir machen es anders
als bei uns. Wir führen ein, dass alle mit Erwerbseinkommen in die
gesetzliche Rentenversicherung einzahlen müssen - ohne
Beitragsbemessungsgrenze. Den Rentenanstieg für die Spitzenverdiener
flachen wir ab. Wenn wir diesen Weg Schritt für Schritt gingen,
bräuchten wir nicht mehr über Altersarmut zu diskutieren.

Sollte man nicht doch umsteuern auf  ein komplett
steuerfinanziertes System?

Gysi: Ich finde das umlagefinanzierte System gut. Es müssen nur
alle einzahlen. So ist zum Beispiel nicht einzusehen, dass auch
wir  Politiker nichts einzahlen, aber gleichzeitig über die Zukunft
der Rente entscheiden.  Das geht einfach nicht. Grundsätzlich muss in
Zukunft wieder gelten, dass die gesetzliche Rente so hoch sein muss,
dass man den Lebensstandard aufrechterhalten kann, den man sich im
Erwerbsleben erarbeitet hat.

Das Interview führte

Werner Kolbe



Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe(at)landeszeitung.de

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Datum: 03.11.2016 - 19:18 Uhr
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