PresseKat - Landeszeitung Lüneburg: Weit entfernt von echter Aufklärung Der NSU-Prozess steuert auf sein Ende

Landeszeitung Lüneburg: Weit entfernt von echter Aufklärung
Der NSU-Prozess steuert auf sein Ende zu - Nebenkläger-Anwalt Yavuz Narin zieht eine erste Bilanz

ID: 1426141

(ots) - Eine unglaubliche Mordserie, Sprengstoffattacken,
Banküberfälle und V-Leute - darum geht es seit dem 6. Mai 2013 im
NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Was unter strengsten
Sicherheitsvorkehrungen und weltweitem Medieninteresse begann, zieht
sich bis heute hin. Opferanwalt Yavuz Narin berichtet von einer "Art
Allianz zwischen Verteidigung und Bundesanwaltschaft", insbesondere
dann, wenn es um die Verstrickung von V-Leuten oder Beamten ging. Ein
Thema, mit dem sich auch Untersuchungsausschüsse befassen.

Dreieinhalb Jahre läuft der NSU-Prozess, 2017 soll er enden. Hat
sich das Durchhalten für Sie als Vertreter der Nebenklage gelohnt?

Yavuz Narin: Ich denke ja, wir sind zwar dem Ziel einer
umfassenden und schonungslosen Aufklärung noch nicht so nah gekommen,
dass man zufrieden sein könnte, dennoch sind auch im Rahmen des
Strafverfahrens sehr wichtige Erkenntnisse ans Tageslicht gekommen.
Wir hatten lange Zeit schwer zu kämpfen mit einer gut aufgestellten
Verteidigung, die versucht hat, jede Erkenntnis im Keim zu ersticken
- zum Teil leider Hand in Hand mit der Bundesanwaltschaft, also der
obersten Anklagebehörde, die ja eigentlich zu unseren Verbündeten
hätte zählen sollen. Wir hatten also oft die skurrile Situation, dass
wir eine Art Allianz zwischen Verteidigung und Bundesanwaltschaft
beobachten mussten, insbesondere dann, wenn es um die Verstrickung
von V-Leuten oder von Beamten ging, die in diesem Spektrum tätig
waren.

Die Bundeskanzlerin hatte anfangs "schonungslose Aufklärung"
versprochen. Hat die gerichtliche Aufarbeitung zur Aufklärung der
Mordserie beigetragen?

Narin: Die gerichtliche Aufarbeitung ist leider nicht geeignet,
eine schonungslose Aufklärung herbeizuführen, weil der
Verhandlungsgegenstand sich nur auf die angeklagten Personen und die




konkret angeklagten Taten erstrecken darf. Wir haben jedoch durch das
Geständnis eines Mitangeklagten unter anderem erfahren, dass ein
weiterer Bombenanschlag durch den NSU zu verantworten ist, der vorher
nicht bekannt war, nämlich auf eine türkische Gaststätte in Nürnberg.
Wir haben darüber hinaus erfahren, dass zahlreiche Personen den NSU,
also das sogenannte untergetauchte Trio, mit Waffen, Geld, falschen
Dokumenten und Unterschlupfmöglichkeiten versorgt haben, und zwar
über viele Jahre.

Am 249. Prozesstag hat die Hauptangeklagte Beate Zschäpe ihr
Schweigen gebrochen und eine Entschuldigung verlesen lassen. Später
räumte sie ein, immer erst nach den Morden von den Taten erfahren zu
haben und jedes Mal vor Wut "ausgeflippt" zu sein. Wie kam diese
Wende bei Ihnen und den Opfern bzw. deren Angehörigen an?

Narin: Meine Mandantinnen haben an diesem Verhandlungstag auch
selbst teilgenommen, allerdings mit sehr gedämpften Hoffnungen.
Tatsächlich war die vermeintliche Einlassung der Frau Zschäpe so um
das bisherige Beweisergebnis herumkonstruiert, dass sie eigentlich
nur die Dinge eingeräumt hat, die bereits zweifelsfrei nachgewiesen
waren. Beate Zschäpe hat sich zudem geweigert, zu ihren
Mitangeklagten Auskünfte zu erteilen. Sie hat dann ihr Bedauern
ausgedrückt und gesagt, sie fühle sich moralisch mitverantwortlich
für diese Straftaten, sie sei außerdem ständig alkoholisiert gewesen.
Sachverständige haben unter anderem ermittelt, dass Frau Zschäpe bis
zu 4,5 Promille gehabt haben müsste, wenn ihre Aussagen über ihren
Alkoholkonsum zuträfen, als sie in Zwickau die Wohnung in Brand
setzte und sich dann vom Tatort entfernte. Tatsächlich aber haben
mehrere Zeugen, mit denen Frau Zschäpe dann an dem Tag Kontakt hatte,
oder die sie gesehen hatten, berichtet, dass Frau Zschäpe völlig
kontrolliert handelte. Ich denke sie war von ihren neuen Verteidigern
nicht gut beraten. Ihre Altverteidiger sprachen sogar von
'prozessualem Selbstmord'.

Parallel zu dem Prozess gab es etliche Untersuchungsausschüsse.
Wie beurteilen Sie deren Arbeit in Bezug auf die Hintergründe der
NSU-Mordserie?

Narin: Wir werden viele Dinge wohl nicht erfahren. Wir haben
allerdings engagierte, mutige Abgeordnete, vor allem im Thüringer
Landtag unter der Leitung von Dorothea Marx. Die engagierte
Aufklärerin hat gegen alle Widerstände versucht, wichtige
Sachverhalte ans Licht zu bringen. Wir haben leider erfahren, dass
hierbei einige unter Druck gesetzt wurden, dass sie oder ihre Kinder
bedroht wurden. Umso mehr sind wir diesen mutigen Menschen zu Dank
verpflichtet, dass sie sich nicht haben einschüchtern lassen.

Fühlen Sie sich als Nebenkläger-Vertreter im Prozessverlauf
ausreichend berücksichtigt?

Narin: Wir haben als Vertreter der Nebenklage eine sehr schwache
Position und mussten uns unseren Raum im Prozess hart erkämpfen. Und
zunächst einmal erwartet man in einem Strafverfahren, dass eine
Staatsanwaltschaft in erster Linie auf die umfassende Aufklärung der
bezeichneten Straftaten hinwirkt und nicht etwa die Aufklärung von
Sachverhalten in einer skurril anmutenden Allianz mit Teilen der
Verteidigung blockiert. Das war zunächst eine sehr merkwürdige und
neue Erfahrung. Wir haben allerdings zwischenzeitlich durch die
zahlreichen prozessualen Anträge und durch unser Wirken bei der
Vernehmung von Zeugen uns einen gewissen Respekt des Senats
erarbeitet.

Können Sie ein Beispiel für Ihr Wirken nennen?

Narin: Wir haben versucht, im Verfahren Themen zu erörtern, die
nicht in der Anklage formuliert, allerdings von großer Bedeutung
waren. So haben wir Beate Zschäpe die Frage gestellt, ob sie sich am
7. Mai in Berlin aufgehalten habe. Diese Frage wurde noch vor wenigen
Wochen vom Senat als unzulässig abgewiesen. Später habe ich einen
Beweisantrag gestellt, und Dokumente in das Verfahren eingeführt, aus
denen hervorgeht, dass Beate Zschäpe und Uwe Mundlos, gemeinsam mit
zwei weiteren Personen, offenbar anhand von Kartenmaterial eine
Synagoge in Berlin ausgespäht haben, wenige Monate vor dem ersten
Mord. Der Vorsitzende hat allerdings insoweit Größe bewiesen, als
dass er die Frage, die er wenige Wochen zuvor abgewiesen hatte,
selbst der Angeklagten Zschäpe gestellt hat, und diese hat dann noch
vor der Vernehmung des polizeilichen Zeugen eingeräumt, dass sie in
Berlin gewesen sei. Sie habe sich jedoch nur das KaDeWe angesehen und
das Brandenburger Tor und erinnere sich an weitere Dinge nicht.
Inwieweit man diesen Angaben Glauben schenken kann, ist angesichts
der hervorragend protokollierten Geschehnisse durch die Polizei
fragwürdig.

Wie bewerten Sie die DNA-Spur, die eine Verbindung zwischen Uwe
Böhnhardt und dem Mordfall Peggy vermuten lässt, vor dem Hintergrund,
dass kinderpornografisches Material auf dessen PC gefunden wurde, und
er Tino Brandt, den wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Ex-V-Mann,
kannte?

Narin: Zumindest im unmittelbaren Umfeld des NSU ist uns anhand
des Aktenstudiums frühzeitig klar geworden, dass der sexuelle
Missbrauch von Kindern und pädokriminelles Material eine sehr große
Rolle spielten. So hat mich verwundert, dass das pädokriminelle
Netzwerk, das der Chef des Thüringer Heimatschutzes, Tino Brandt,
viele Jahre betrieben hat, so lange ungehindert agieren konnte,
obwohl dieser Sachverhalt in Thüringen ein offenes Geheimnis war. Wir
wissen, dass Tino Brandt als V-Mann des Landesamtes für
Verfassungsschutz von seiner Behörde vor mindestens 35 Strafverfahren
aktiv geschützt wurde, dass er vor polizeilichen
Durchsuchungsmaßnahmen gezielt durch seine V-Mann-Führer gewarnt
wurde. Ich denke, dass jetzt in diesem Kontext auch die Behörden
gefragt sind, hier verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen,
indem all diesen Sachverhalten nachgegangen wird. Uwe Böhnhardt und
der Waffenbeschaffer des NSU, Enrico T., haben in der Vergangenheit
bereits im Zusammenhang mit der Ermordung eines neunjährigen Jungen
eine Rolle gespielt. Enrico T. war damals Tatverdächtiger, hat dann
später Uwe Böhnhardt bezichtigt, für die Ermordung des Kindes
verantwortlich zu sein. Und wir haben darüber hinaus Erkenntnisse
über weitere Personen aus diesem Milieu, die Böhnhardt kannten.

Also halten Sie eine Täterschaft für wahrscheinlich?

Narin: Ich halte es auf jeden Fall für sehr plausibel, dass hier
ein Zusammenhang bestehen kann. Man muss natürlich die weiteren
Ermittlungen abwarten. Zwischenzeitlich wurde durch das BKA eine
Meldung kolportiert, es handle sich möglicherweise um eine
Verunreinigung aufgrund verwendetem identischem Werkzeug an den
verschiedenen Tatorten. Diese Hypothese wurde allerdings sowohl von
den Landeskriminalämtern als auch von Forensikern als sehr
unplausibel angesehen, zumal die Geräte mit einer Lösung, die
DNA-Material vernichtet, gereinigt werden. Abgesehen davon wurden
diese Gerätschaften über viele Jahre benutzt, also hätte man
Böhnharts DNA an vielen Tatorten finden müssen. Darüber hinaus kann
ich sagen, dass nach meinen Erkenntnissen die DNA-Spur, die unter den
sterblichen Ãœberresten von Peggy an einem Stofffetzen aufgefunden
wurde, von einer Qualität ist, die eine versehentliche Übertragung in
Form einer Verunreinigung nahezu ausschließt.

Planen Sie weitere Schritte nach dem Prozess?

Narin: Nach dem Prozess wird unser Auftrag nicht beendet sein. Wir
werden weiterhin alle Möglichkeiten ausschöpfen. Vor wenigen Tagen
verjährte allerdings die sogenannte Operation Konfetti - im Bundesamt
für Verfassungsschutz wurden zahlreiche Akten zum NSU-Umfeld durch
einen Mitarbeiter geschreddert. Wir wissen heute aufgrund eines
Geständnisses gegenüber der Generalbundesanwaltschaft, dass diese
Person die Akten vorsätzlich vernichtet hat. Dies ist erst vor
wenigen Monaten bekannt geworden. Die Staatsanwaltschaft in Köln hat
sich leider geweigert, ein Ermittlungsverfahren wieder aufzunehmen
bzw. verjährungsunterbrechende Maßnahmen zu verfügen. Wir werden
demnächst Strafanzeige gegen die Staatsanwälte wegen Strafvereitelung
im Amt stellen, fürchten aber, dass auch das keine Konsequenzen haben
wird, weil dieselbe Staatsanwaltschaft, die diese Nichtaufnahme der
Ermittlungen angeordnet hatte, für dieses Strafverfahren zuständig
wäre.

Sie sind regelmäßig als Vortragsreisender unterwegs, welche
Mission verfolgen Sie damit?

Narin: Ich finde es sehr schön und wichtig, dass Menschen in der
ganzen Republik sich für diese Thematik interessieren. Angesichts der
Komplexität des Sachverhalts kann eigentlich kein normaler Mensch
mehr den NSU-Komplex überblicken, und hier will ich meinen Beitrag
zur Aufklärung leisten. Die Zivilgesellschaft in dieser Demokratie
scheint zu funktionieren. Das gibt auch meinen Mandantinnen das
Gefühl, nicht alleine zu sein.

Das Interview führte

Dietlinde Terjung



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Werner Kolbe
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Datum: 17.11.2016 - 22:35 Uhr
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