(ots) - Man kann der Ansicht sein, nach zwölf
Regierungsjahren sei es hohe Zeit für einen Wechsel an der Spitze der
Bundesregierung. Noch dazu, wo Angela Merkel ihrer Erfolgsbilanz
recht gern ausgerechnet das EU-Türkei-Abkommen voranstellt. Viele
sehen darin eher einen Offenbarungseid, zeigt es doch, dass die
Europäische Union zum Schutz ihrer Außengrenzen auf die Hilfe eines
wankelmütigen Diktators angewiesen ist. Man kann aber auch zu dem
Schluss kommen, dass in einem historischen Augenblick, wo die Welt
ins Wanken zu geraten scheint, Kontinuität und Stabilität in der
Mitte Europas keine schlechte Sache sind. Die Mehrheit der Europäer
scheint Variante Zwei zuzuneigen. Kommissionspräsident Jean-Claude
Juncker, nicht zu allen Zeiten ein Busenfreund der deutschen
Kanzlerin, sieht in ihr ein Bollwerk gegen den Populismus und eine
Verfechterin fundamentaler Werte. Kommentatoren von Spanien bis
Schweden zeichnen am Tag nach Merkels Entscheidung für eine vierte
Kandidatur das Bild einer zupackenden, verlässlichen Politikerin, zu
der es derzeit in Deutschland und in der EU keine Alternative gebe.
Sie lassen den Blick schweifen und zeichnen von Europas politischer
Klasse ein verheerendes Bild. In Spanien soll es nach monatelanger
Krise und zwei Wahlen der ungeliebte Konservative Felipe Rajoy
richten, der sich noch nicht einmal auf eine Parlamentsmehrheit
stützen kann. In Frankreich hat Präsident Francois Hollande
abgewirtschaftet. Noch ist völlig unklar, wer ihn ablösen wird und ob
die für Europa so wichtige Achse Paris-Berlin wiederauferstehen kann.
Mit Britanniens neuer Premierministerin Theresa May kommt Merkel ganz
gut zurecht - doch bei den Austrittsverhandlungen verfolgen die
beiden gegenläufige Interessen. Wie die Post-Brexit-Beziehungen
zwischen Berlin und London aussehen, wird man erst in ein paar Jahren
wissen. Matteo Renzi muss am 4. Dezember in Italien ein Referendum
überstehen, bevor klar ist, ob er weiter zum Club gehören wird. Am
selben Tag wird in Österreich ein neuer Bundespräsident gewählt.
Sollte der Rechtspopulist Norbert Hofer gewinnen und in Frankreich
gar Marine Le Pen im kommenden April Präsidentin werden, wird Merkels
Kreis möglicher Kooperationspartner in der Flüchtlings-,
Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik noch kleiner. Das alles hat die
deutsche Kanzlerin im Blick, wenn sie davor warnt, sich von einer
vierten Amtszeit Merkel Wunder zu versprechen. Einer allein könne
nicht viel ausrichten, hat sie am Wochenende mehrfach betont - und
schon gar nicht die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Hinzu
kommt, dass Merkel auch in Übersee eine wichtige mögliche
Bündnispartnerin verloren hat. Hillary Clinton und Angela Merkel sind
sich, was Fleiß, Machtwillen und protestantische Pflichterfüllung
angeht, nicht unähnlich. Über die Linien künftiger transatlantischer
Zusammenarbeit hätten sie sich ganz sicher pragmatisch verständigen
können. Stattdessen hat es Merkel nun nicht nur mit Putin und Erdogan
zu tun, sondern auch mit Donald Trump in den USA. Merkel wird auch
diese Herausforderung in ihrer unaufgeregten lakonischen Art annehmen
- falls sie nach der nächsten Bundestagswahl noch einmal eine
parlamentarische Mehrheit unter ihrer Führung zusammenbekommt. Die
Ausgangslage für Europa ist diesmal ungleich schwieriger als nach
ihrer Wahl 2013 und sogar komplizierter als 2009 mitten in der
Finanzkrise. Damals spekulierte die Welt, dass der Euro die
Erschütterungen vielleicht nicht überleben würde. Heute steht die
Zukunft des vereinten Europa auf dem Spiel.
Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten(at)mittelbayerische.de
Original-Content von: Mittelbayerische Zeitung, übermittelt durch news aktuell