(ots) - Sigmar Gabriel hat sich mit einem Paukenschlag
verabschiedet. Er lässt alles stehen und liegen und flüchtet sich in
das relativ komfortable Außenministeramt. Das Ganze verkauft er als
selbstlose Entscheidung im Interesse der Partei, die via Interviews
über die Rochade an der Spitze informiert wird. Währenddessen
versuchen die düpierten Berliner Spitzengenossen, in der Außenwirkung
das Schlimmste zu verhindern und die Mär vom Märtyrer Gabriel
aufzubauen. Im nächsten Atemzug wird noch schnell der bisherige
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der in der Bundespolitik noch
nie in verantwortlicher Position in Erscheinung trat, zum neuen
Heilsbringer der SPD erklärt.
Doch der Reihe nach: Sigmar Gabriel hatte von seiner Partei stets
ein geordnetes Kandidaten-Verfahren gefordert und zugleich
Selbstdisziplin der Parteispitze zugesagt. Dass er dieses Versprechen
derart brachial brach, lässt auf einen tiefgehenden Frust wegen
seiner schlechten Wahlaussichten und/oder massiven Ärger über seine
Partei schließen.
Sigmar Gabriel hat kapituliert. Er hatte die SPD in einer
schwierigen Zeit übernommen, nach innen einigermaßen stabilisiert,
zugleich aber nie aus dem Tal der Tränen führen können. Sollte es im
Herbst in Berlin zur Fortsetzung der Großen Koalition oder einer
sonst wie gearteten SPD-Regierungsbeteiligung kommen, könnte er noch
einen Ministerposten ergattern, vielleicht sogar Außenminister
bleiben. Dann wäre er ein Gewinner seines gestrigen Coups. Dabei geht
es aber, ausdrücklich, nur um ihn selbst. Im Falle einer
Nichtbeteiligung der SPD wäre die Karriere Sigmar Gabriels als
Spitzenmann beendet. Zurück bliebe ein emotionaler, manchmal
unberechenbarer, gewiefter, von der breiten Öffentlichkeit nie
wirklich gemochter Vollblutpolitiker, der in seinem Leben keine
einzige wichtige Wahl gewann. Dieser Malus verfolgt ihn schon seit
seiner Zeit als niedersächsischer Landespolitiker.
Nun also Martin Schulz. Er ist beliebter als Gabriel, was aber
noch nicht als Leistung gelten kann. Allerdings ist er nach Gabriel
die einzige Alternative für die Kanzlerkandidatur der
Sozialdemokraten. Dass neben Martin Schulz auch Hamburgs Regierender
Bürgermeister Olaf Scholz hin und wieder als möglicher
Merkel-Herausforderer genannt wurde, sagt viel über das
Spitzenpersonal der SPD im Bund aus.
Aus Sicht der Parteistrategen kann es jetzt nur um zwei Dinge
gehen: Erstens muss mit Blick auf die NRW-Landtagswahl im Mai
schnellstmöglich Ruhe in der SPD einkehren, um an der Basis das
Vertrauen in das Wirken von "denen da oben" nicht gänzlich zu
zerstören. Hier kommt Ministerpräsidentin Hannelore Kraft die
entscheidende Rolle zu. Für sie gilt es, die potenziellen SPD-Wähler
zum Gang an die Urnen zu motivieren.
Zweitens steht Martin Schulz in der Pflicht, die SPD in seinem
Heimatland NRW uneingeschränkt zu unterstützen und sich zugleich
bundesweit zu profilieren. Da hat er den größten Nachholbedarf.
Deshalb ergibt eine zügige Übernahme des SPD-Parteivorsitzes Sinn.
Doch fernab von diesen taktischen Überlegungen hinterlässt der
gestrige fliegende Wechsel an der Spitze der Sozialdemokraten einen
unangenehmen Beigeschmack. Mit Vertrauen und Verlässlichkeit hat das
alles wenig, mit einem geordneten Verfahren hat es gar nichts zu tun.
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