(ots) - Dass Frank-Walter Steinmeier gestern mit großer
Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt wurde, ist eine gute
Nachricht. Steinmeier hat die Kraft und die Fähigkeit, als
Stabilisator in unsicheren Zeiten nach innen und nach außen zu
wirken. Das Amt gerade jetzt als Fortsetzung seiner
Außenminister-Aktivitäten mit anderen Mitteln zu verstehen, ist
angemessen und richtig - wenn er die Innenpolitik nicht aus den Augen
verliert.
Ob der gestrige Tag unter rein machtpolitischen Gesichtspunkten
auch für CDU und CSU ein guter war, steht auf einem anderen Blatt.
War es nun ein Akt der "Selbstverzwergung", einen Sozialdemokraten zu
wählen, oder gar ein Zeichen von Souveränität, einen politischen
Konkurrenten ins höchste Amt zu befördern? Die kluge, pointierte und
tiefgründige Rede von Bundestagspräsident Norbert Lammert gestern
dürfte den Christdemokraten und -sozialen die verpasste Chance
jedenfalls noch einmal vor Augen geführt haben und die
Verzwergungsthese stützen. Lammert wäre auch (!) ein guter
Bundespräsident gewesen. Sei's drum.
Fest steht, dass die SPD gerade die Wiederauferstehung als
Volkspartei feiert. Die Wahl Steinmeiers mitten in den Schulz-Effekt
hinein könnte im Herbst, wenn der Bundestag gewählt wird,
rückblickend als Beginn der Nach-Merkel-Ära gelten. Steinmeier zum
Präsidenten und Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten gemacht zu haben,
hat Noch-Parteichef Sigmar Gabriel jetzt schon zumindest eine Fußnote
im Geschichtsbuch gesichert: als genialsten Sich-selbst-Abschaffer
aller Zeiten.
Im Rückblick ist man immer schlauer. Das gilt auch für die Frage,
ob die Beschreibung der aktuellen Lage als "weltpolitische
Zeitenwende" eine Ãœbertreibung ist oder nicht, und welche Rolle dem
Bundespräsidenten dabei zukommt. Betrachtet man Steinmeier mit dem
Blick auf das halb leere Glas, sinken die Erwartungen. Als
Außenminister hat er weder die Ukraine-Krise noch den Syrien-Krieg
entscheidend beeinflussen können. Als Typ wirkt Steinmeier blass,
farblos und glatt, schlicht langweilig. Andererseits ist es auch sein
Verdienst, den Iran nach 13 Jahren Verhandlungen zu einem
Anti-Atom-Abkommen bewegt zu haben - einem Abkommen, das der neue
US-Un-Präsident wieder aufkündigen möchte. Diesem erfolgreichen
Steinmeier ist zu bescheinigen, seine Ziele unaufdringlich, behutsam
und diplomatisch-beharrlich zu verfolgen. Kann so einer die Welt
retten?
Steinmeier ist der Anti-Trump. Aber er ist dies nicht als
Gegengewicht, sondern als Gegenentwurf. Sich mit Taten gegen den
neuen Nationalismus der USA und auch innerhalb Europas zu stemmen,
kommt derzeit nur der Kanzlerin zu. Steinmeier muss es mit Worten
versuchen - als Bundespräsident, dessen gebotene parteipolitische
Neutralität ihn tunlichst nicht zu einem Neutrum machen sollte. Kann
er das? Wer ihn seinerzeit als Kanzlerkandidat erlebt hat, wie er auf
den Marktplätzen "schröderte" - laut, hart, klar -, weiß: Er kann es.
Steinmeier muss und wird sich positionieren: gegen
Schwarz-Weiß-Denken, gegen alternative Fakten, gegen Populismus. Das
wird sein Thema. Einigkeit und Recht und Freiheit, gestern
traditionell von der Bundesversammlung besungen, sind keine
Selbstverständlichkeiten. Wie ein Nicht-Demokrat die Grundfesten
einer freiheitlichen Gesellschaft erschüttern kann, zeigt gerade ein
gigantisch-gruseliges Experiment in Amerika.
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