(ots) - Kommentar, Mittelbayerische Zeitung Regensburg,
zu EU
Neustart für Europa
Von Stefan Stark
Die alte Welt ist aus den Fugen geraten. Die Flüchtlingskrise,
Putins Kriegsgeheul, der Brexit-Schock und Trumps Abkehr von Europa
markieren die Zeitenwende, mit der sich vertraute Sicherheiten in
atemberaubendem Tempo in Luft auflösen. Gleichzeitig blickt der
Kontinent voller Sorge auf die Präsidentenwahl in Frankreich. Die
Schicksalstage für Europa nehmen inflationär zu. Nun versuchen die
EU-Chefs in ihrem Dauerkrisenmanagement einen Befreiungsschlag.
Eigentlich müsste man erwarten, dass das drohende Chaos die Europäer
zusammenschweißt. Die Vernunft sagt, dass am ehesten eine starke EU,
die geschlossen auftritt, die komplexen Probleme in den Griff
bekommen kann. Genau das Gegenteil ist auf dem Gipfel in Brüssel der
Fall. Wieder überlagern kleinkarierte Nationalismen die wichtigen
Fragen. Mit der Posse um die Wiederwahl von Ratspräsident Donald Tusk
trägt die Regierung in Warschau polnische Parteipolitik auf dem
Rücken der EU aus und sorgt damit für einen programmierten Eklat. Die
Brüsseler Granden könnten das wieder einmal kleinreden und im immer
dickeren Ordner der nationalen Eigenbrötlereien abheften. Das würde
sich aber auf anderer Ebene rächen. Denn der Streit steht
sinnbildlich für eine Union, die sich gegenseitig lähmt, während sie
gleichzeitig auseinanderdriftet. Diese Situation wird auf Dauer nicht
nur den Verdruss der Bürger über die EU verstärken, sondern Europa
letztlich zerreißen. Angela Merkel unterstützte gestern in ihrer
Regierungserklärung die Pläne der EU-Kommission für ein Europa der
verschiedenen Geschwindigkeiten. Das bedeutet eine klare Ansage an
Staaten, die zwar gerne die Milliardengelder aus Brüssel einstecken,
um dann im Gegenzug dringende Entscheidungen zu blockieren. Zur
Erinnerung: In der Flüchtlingspolitik zählte Polen gemeinsam mit den
drei anderen Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien und der Slowakei zu
den größten Verhinderern einer EU-Lösung. Mit der Diskussion um die
verschiedenen Geschwindigkeiten steht die Union am Scheideweg. Die
Kanzlerin will sich nicht länger ein Europa auf kleinstem gemeinsamen
Nenner diktieren lassen. Die Botschaft lautet: Wer mit dem EU-Konzert
nicht harmoniert, sitzt in Brüssel künftig bestenfalls noch am
Katzentisch. Daheim kann er dann sein eigenes Süppchen kochen. Die
Lähmung der EU hat handfeste Gründe, die nicht allein in Brüssel zu
finden sind. Im Zweifelsfall stechen nationale Interessen alles
andere aus. Das gilt für alle Mitgliedsstaaten - nicht nur für die
widerspenstigen Visegrad-Länder. Das zeigte sich im Streit um das
Ceta-Abkommen, wo ein belgisches Regionalparlament eine Entscheidung
der 27 anderen EU-Länder blockierte. Ein weiteres Beispiel lieferten
die Briten, wo politische Hasardeure mit dem Austrittsreferendum an
Europa zündelten. Auch Deutschland lässt sich hier auflisten, weil es
sich einst die Kriterien aus dem Euro-Stabilitätspakt nach eigenem
Gusto zurechtbog. Die EU steuert unweigerlich auf eine Zäsur zu. Doch
die Krux der Vorschläge für einen Neuanfang lautet: Sie stellen
Europa vor ein Dilemma. Die neue Marschroute der verschiedenen
Geschwindigkeiten führt zwangsläufig zur weiteren Zersplitterung
zwischen Integrationsbefürwortern und Gegnern. Gleichzeitig ist
inzwischen auch den eingefleischstesten Europäern klar, dass ein
Weitermachen wie bisher keine Alternative sein kann. Das Modell der
Kommission birgt die Chance, dass Brüssel mehr politische
Entscheidungskraft gewinnen kann, indem es ungeliebte Bremser
kaltstellt. Allerdings wäre das nur noch ein Kerneuropa - wobei sich
über die entscheidende Frage im Moment nur spekulieren lässt: wer
diesem Kern künftig neben Deutschland und vielleicht Frankreich
angehört.
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