(ots) - Nun schießen sie sich auf die Retter ein, vorerst
noch verbal. Und tatsächlich: Über die zentrale Route hat keiner der
schon mehr als 100 000 Flüchtlinge des ersten Halbjahres 2017 das
italienische Festland je auf einem Schlauchboot erreicht. Ausnahmslos
alle mussten auf hoher See gerettet werden - und viele Tausend
verloren ihr Leben. Die Schiffe, die im Mittelmeer kreuzen, ob privat
oder staatlich betrieben, stellen einen erheblichen "Pull-Faktor"
dar. Sie ziehen Flüchtlinge an. Je mehr Verzweifelte sie aufnehmen,
desto mehr kommen nach. Dennoch ist die Debatte darum, an der sich
Innenminister Thomas de Maizière besonders engagiert beteiligt,
extrem kurzatmig und kurzsichtig. Denn selbst wenn es in dieser
Meeresregion keinen einzigen Retter mehr gäbe, wenn Europa die ersten
Tausend absaufen lassen würde, bis die Nachkommenden kapieren, dass
sie an dieser Stelle keine Chance haben - der Flüchtlingsstrom würde
weitergehen. Er würde sich nur andere Wege suchen, vielleicht wieder
die Ägäis, vielleicht Spanien, vielleicht die Kanaren. Der Präsident
der Afrikanischen Union, Alpha Condé, hat absolut recht, wenn er
sagt, dass der Treck nach Norden erst aufhört, wenn Afrika sich
entwickelt. Denn es gibt auch den "Push-Faktor", die Abstoßung der
Menschen aus ihrer Heimat. Der afrikanische Flüchtlingsstrom speist
sich anders als der kriegsbedingte syrische aus so vielen Quellen,
dass er in absehbarer Zeit nicht versiegen wird. Das kann Europa
nicht schnell lösen. Weil Diktatoren, Warlords und Islamisten immer
wieder einreißen, was durch Entwicklungshilfe erreicht wurde. Das ist
die Grunderkenntnis. Ein realistisches Ziel kann es daher nur sein,
den Flüchtlingsstrom so gering wie möglich zu halten und dabei die
eigene Menschlichkeit nicht total zu verlieren. Eigentlich wären 200
000 Migranten pro Jahr, die jetzt in Italien landen, für Europa ein
Klacks - wenn sie denn gleichmäßig verteilt würden. Die Zahl
entspricht 0,04 Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung, vier in
jeder Stadt mit 10 000 Einwohnern. Eigentlich könnte Europa so vielen
Afrikanern - und sogar mehr - jährlich legale Einreisewege öffnen, um
den Schleppern das Geschäft zu verderben. Eigentlich müsste Europa
Libyen viel konzentrierter helfen, seine Staatlichkeit
wiederzugewinnen und dort menschenwürdige Auffanglager errichten.
Auch wären im Sahel und in Westafrika viel mehr Programme notwendig,
die Rückkehrern eine Perspektive geben. Eine sinnvolle europäische
Flüchtlingspolitik gegenüber Afrika müsste aus einem solchen Strauß
von Maßnahmen bestehen und beide Faktoren, Pull wie Push, gleichmäßig
zu vermindern suchen. Stattdessen aber geben jetzt wieder die ganz
harten Kerle den Ton an, solche, die schießen, abdrängen, sich
einzäunen wollen. So blockiert sich Europa in dieser Frage politisch
derzeit bis zur Handlungsunfähigkeit - und macht alles nur noch
schlimmer.
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