(ots) - Bundesaußenminister Sigmar Gabriel bricht heute
zumindest seinen Urlaub ab, um in Berlin über das weitere Vorgehen im
Fall der Türkei zu beraten. Markige Worte des deutschen
Chefdiplomaten in Richtung Ankara sind zu erwarten. So wie der
türkische Botschafter immer wieder ins Auswärtige Amt zitiert wird,
um ihm die deutsche Haltung und den Protest auszudrücken. Man sollte
dem Herrn Botschafter gleich ein Büro zur Verfügung stellen. Er wird
sicher noch oft ins deutsche Ministerium zitiert werden. Die
Kanzlerin, die noch vor zwei Wochen mit Erdogan in Hamburg beim
G20-Treffen gesprochen hat, drückt nun ihre "allergrößte Sorge" über
die "ernste und traurige Situation" in der Türkei aus. So viel
diplomatische Leisetreterei ist peinlich angesichts des dramatischen
Abbaus der Demokratie, angesichts massenhafter
Menschenrechtsverletzungen, willkürlicher Verhaftungen und einer
politisch instrumentalisierten Justiz in der Türkei. Dass Berlin,
Brüssel und nun auch Washington nur mit dem diplomatischen
Zeigefinger drohen, wird Erdogan nicht beeindrucken. Der
Möchtgern-Sultan versteht offenbar nur noch die Sprache von Taten. Es
ist höchste Zeit, die EU-Beitrittsverhandlungen, die längst zur Farce
geworden sind. Auch wenn es im Kanzleramt heftig bestritten wird,
Angela Merkel hat kein Konzept, wie mit dem rasenden Demokratieabbau
und der brutalen Willkür Ankaras umzugehen ist. Freilich hat die
Zurückhaltung Berlins, mit der auf die gnadenlose Verfolgung und das
Mundtotmachen jeglicher Opposition in der Türkei reagiert wird, einen
triftigen Grund: Die Bundeskanzlerin und ihre Regierung haben sich
mit dem EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen auf Gedeih und Verderb Erdogan
ausgeliefert. Rund drei Milliarden Euro werden an Ankara für
Flüchtlingsprojekte in der Türkei aus Brüssel überwiesen, damit die
vor dem Krieg in Syrien und im Irak geflohenen Menschen sich nicht
nach Europa aufmachen. Dabei trägt die Türkei zweifellos eine Last,
die viele europäische Staaten nicht zu tragen bereit sind. Das sollte
nicht vergessen werden. Doch wenn Ankara das Abkommen mit der EU
aufkündigen würde, gäbe es bald wieder Zustände wie Ende 2015, Anfang
2016, Flüchtlingsströme, die sich auch nicht mit ungarischem
Stacheldraht aufhalten ließen. Dass das Reizthema Flüchtlinge, das in
Deutschland die AfD groß machte, weit nach hinten gerückt ist im
deutschen Wahlkampf, kommt sowohl Merkel als auch ihrem
SPD-Herausforderer Martin Schulz zupass. Die brisante Verquickung von
Außen- und Innenpolitik wird in dieser Frage deutlich. Jede
außenpolitische Entscheidung, etwa mehr Druck auf Erdogan und
vielleicht wirkliche Sanktionen gegen die Türkei, treffen auf einen
innenpolitischen Resonanzraum. Umgekehrt haben innenpolitische
Forderungen, wie Horst Seehofers nun nicht mehr ganz so vehement
propagierte "Obergrenze", auch außenpolitische Konsequenzen.
Stillschweigend geht der CSU-Chef davon aus, dass Erdogan weiterhin
das Abkommen einhält und Flüchtlinge nicht massenhaft gehen lässt.
Man mag es fast schon für Verfolgungswahn halten, dass Erdogan hinter
jedem Stein einen Oppositionellen, einen Anhänger der Gülen-Bewegung,
einen Kritiker seiner Politik zu erkennen glaubt, gegen den hart
vorgegangen werden müsse. Er hat den gewaltsamen und blutigen
Militärputsch vor einem Jahr als eine "Gunst Allahs", als Vorwand für
die gnadenlose Verfolgung Andersdenkender genutzt. Es ist zudem nicht
auszuschließen, dass der Präsident nun ernsthaft glaubt, er könne mit
inhaftierten deutschen Staatsbürgern Druck auf die Auslieferung von
Türken machen, die in Deutschland um Asyl gebeten haben.
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