(ots) - Guten Morgen in einem neuen Deutschland! Historische
Zäsur, tektonische Verschiebungen, Denkzettelwahl. Starke Vokabeln
sind notwendig, um das Ergebnis der Bundestagswahl zu umschreiben.
Und sind noch zu schwach, um das wahre Dilemma zu artikulieren.
Ungeklärt nach diesem Wahlabend: Wie soll es weitergehen? Ist das
Land nach der Absage der tief gesunkenen SPD an eine große Koalition
unregierbar geworden? Ist Merkel, die in geradezu wahnwitziger
Realitätsverleugnung am Abend davon sprach, ihre "strategischen
Ziele" erreicht zu haben, mit dem schlechtesten Ergebnis der Union
seit 1949 im Grunde nicht genauso abgewählt wie die SPD und müsste
den Weg frei machen für einen anderen?
Fast beiläufig und so, als wäre es schon beschlossene Sache,
sprachen die TV-Kommentatoren gestern von der Jamaika-Koalition unter
(einer massiv abgestraften) Merkel als einziger Möglichkeit, eine
Regierung zu bilden. Doch wie soll diese Koalition, in der viele
miteinander unvereinbare Positionen aufeinanderprallen, das Land in
die Zukunft führen? Die FDP hat üble Erfahrungen damit, was passiert,
wenn ihr Programm in einer Koalition verwässert. Christian Lindner
wird die Fehler, die Guido Westerwelle zwischen 2009 und 2013 machte
und die Liberalen den Wiedereinzug in den Bundestag kosteten, nicht
noch einmal machen und auf die Verwirklichung zentraler liberaler
Positionen pochen. Kaum anzunehmen, dass der FDP-Chef auf grüne
Positionen zur Vermögenssteuer, zur Bürgerversicherung, zu Europa
oder zum Aus für den Verbrennungsmotor bis 2030 einschwenken wird.
Umgekehrt werden auch die Grünen nicht ihr Profil aufgeben, nur um
mitzuregieren.
Der Einzug der AfD ins Parlament wird das Handeln einer sowieso
schon fragilen Koalition nicht erleichtern. "Merkel jagen" kündigte
der voraussichtliche künftige Fraktionschef Alexander Gauland bereits
am Wahlabend als Parole an - und mit ihrem krawallig-provokanten
Politikstil wird die AfD das Miteinander im Hohen Haus zweifellos
verändern. Dass künftig auch Rechtsradikale im Bundestag sitzen,
bedeutet nichts Gutes für die parlamentarische Kultur, wird unsere
Demokratie aber aushalten - und birgt sogar eine Chance: Jetzt muss
die Partei endlich klären, wie sie mit rechtsextremem und
hetzerischem Gedankengut in den eigenen Reihen umgeht und ob sie in
der Lage ist, Sachpolitik zu betreiben. Sollte sie daran scheitern
und sich selbst entzaubern, wird die AfD eine Episode in der
Geschichte der Republik bleiben wie der Höhenflug der Republikaner in
den 80er und 90er Jahren. Denn dann werden die mehr als eine Million
CDU-Wähler, die gestern ihr Kreuzchen bei der AfD machten, schnell
wieder weg sein.
Wundern indes muss sich über den Einzug der AfD ins Parlament und
die Ohrfeige des Wählers für die ehemaligen Volksparteien niemand.
Die Analyse ist eindeutig: Das Ergebnis ist eine Folge davon, was
passiert, wenn Politiker sich von denen, die sie gewählt haben,
entfremden und an deren Ängsten, Nöten und Bedürfnissen
vorbeiregieren. 60 Prozent der AfD-Wähler gaben gestern an, die
Partei nur aus Enttäuschung über das Versagen der anderen Parteien
gewählt zu haben - obwohl es dem Land wirtschaftlich gut geht. Das
große Thema war für viele die Flüchtlingskrise oder wie CSU-Chef
Seehofer es ausdrückte: Die "rechte Flanke wurde offengelassen." Doch
auch auf vielen anderen Feldern wie der Euro-Politik wurde den
etablierten Parteien die Lösung drängender Probleme nicht mehr
zugetraut.
Insofern muss das Ergebnis allen Parteien Mahnung sein. Ein
"Weiter so!", das die Kanzlerin im Wahlkampf propagierte, darf es
nach diesem Abend nicht geben. Es muss Schluss sein mit der Politik
der "ruhigen Hand", mit Kreativlosigkeit und dem Herumdrucksen um
durchgreifende Reformen. Dass Merkel dafür die Richtige ist, muss
bezweifelt werden. Die Frage ist nur: Wer stünde bereit, um zu
übernehmen? / Bernd Loskant
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