(ots) - Otto von Bismarck war nicht nur ein in der Rückschau
durchaus umstrittener Reichskanzler, sondern auch ein von Bewunderern
und Gegnern geachteter Realpolitiker. Zu seinen wichtigsten
Grundsätzen gehörte, Politik als Kunst des Möglichen zu verstehen.
Wer in einer Jamaika-Koalition nach der Bundestagswahl also
einerseits eine alternativlose, andererseits im Kern aber auch
"unmögliche" Regierungsoption sieht, der weiß: Jetzt sind
Möglichkeits-Künstler gefragt.
Angela Merkel ist im Prinzip der Prototyp einer solchen
Möglichkeits-Künstlerin. Ihre, nennen wir es einmal, politische
Wendigkeit, fernab jeder Ideologie, hat noch jeden Konflikt
entschärft, oder besser: entkräftet. Allerdings gibt es eine
entscheidende Ausnahme: ihre Flüchtlingspolitik. Ausgerechnet hier
hat sich Merkel vom "C" im Namen ihrer Partei leiten lassen und
überraschend ein Prinzip in den Mittelpunkt ihres Handelns gestellt:
das der christlichen Nächstenliebe. Dafür wird sie bewundert,
kritisiert und verachtet. In jedem Fall hat sie so - und das ist nur
eine Beschreibung, keine Bewertung - ein Vakuum rechts von den
Unionsparteien entstehen lassen, das mindestens die CSU nach ihrem
Selbstverständnis existenziell bedroht.
CSU-Chef Horst Seehofer braucht darum, mehr denn je, die
Obergrenze, die zwar mit dem "C" im Namen seiner Partei nichts zu tun
hat (was eine Beschreibung und eine Bewertung ist), die aber sein
politisches Ãœberleben sichern soll. Die Obergrenze - also die
Begrenzung der Asylsuchenden in Deutschland auf 200.000 pro Jahr -
ist seine rote Linie, ohne die es eine Einigung mit der CDU als
Voraussetzung für gemeinsame Koalitionsverhandlungen nicht geben
kann. Zugleich ist es auch die vermutlich einzige echte rote Linie
der Kanzlerin. Die, die sonst fast alles möglich macht, sieht in der
Obergrenze nämlich schon eine verfassungsrechtliche Unmöglichkeit.
Denn im Grundgesetz steht: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."
Dort steht nicht: "Die ersten 200.000 politisch Verfolgten genießen
Asylrecht." Und es kommt noch schlimmer für die CSU. Selbst wenn
Merkel umfallen würde: Mindestens die Grünen könnten - Stichwort:
rote Linie - einen Koalitionsvertrag, in dem das O-Wort steht, nie
und nimmer unterschreiben.
Was tun? Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist, dann kann man
mit der Sprache als wichtigstem Instrument der Politik Unmögliches
womöglich in gerade noch Mögliches verwandeln. Beispielsweise könnte
die FDP der grünen Forderung nach einem "Ende des Verbrennungsmotors"
2030 sicher nicht zustimmen. Würde man dagegen in einen "Ausstieg"
des Verbrennungsmotors nur "einsteigen", also eine "Trendwende"
einleiten, wie es die FDP selbst formuliert hat, müssten weder Grüne
noch FDP aus Koalitionsverhandlungen aussteigen. Das funktioniert so
vielleicht auch in der Flüchtlingspolitik. Die FDP etwa fordert ein
Einwanderungsgesetz (dafür müsste freilich mit Rücksicht auf CDU und
CSU ein neues Wort gefunden werden). Es geht darum, das Asylrecht,
einen vorübergehenden Flüchtlingsschutz und die Einwanderung von
Fachkräften zu regeln und miteinander zu verbinden. Natürlich ließe
sich hier auch ein Grenzwert festlegen, der flexibel ist. Ein
"atmender Richtwert" also statt einer starren Obergrenze - und
Seehofer könnte aufatmen und sagen: Freunde, wir haben uns
weitestgehend durchgesetzt.
Das seien Taschenspielertricks? Na klar. Aber wenn es um nichts
weniger als die Regierungsfähigkeit Deutschlands geht, dann heiligt
der Zweck die Mittel. Der Ober-Realo Bismarck hätte das wohl auch so
gesehen.
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