(firmenpresse) - Bonn/Hamburg - Die Deutschen sind ordnungsverliebt. Und deshalb möchten sie auch die Feuilletonseiten der Zeitungen pflegen wie ihre Vorgärten. Doch jetzt bricht "Anarchie im Feuilleton" aus, so der Kultur-Spiegel http://www.spiegel.de in seinem neuen Heft. "Internet-Hobbyrezensenten konkurrieren zunehmend mit der klassischen Literaturkritik um die knappe, kostbare Aufmerksamkeit der Leser", so das Magazin. Das Feuilleton verliere sein Meinungsmonopol, weil Kundenbesprechungen im Internet, zumal beim Marktführer Amazon http://www.amazon.com, immer wichtiger würden. In den angelsächsischen Ländern ist es schon so weit. Die Online-Empfehlungen beeinflussen dort den Verkauf einzelner Bücher wesentlich stärker als "manche Hymne in renommierten Zeitungen oder Zeitschriften".
Zeit, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Welt und andere können die Flut von Neuerscheinungen gar nicht mehr beackern. Da müssen die fleissigen Ameisen im Internet her. Viele Publikumsverlage freuen sich. Es kommt hinzu: Die feinen Feuilletons besprechen häufig Bücher, die das grosse Publikum nicht interessieren. Laut Spiegel ist das Online-Rezensententum keine Einzelerscheinung. Beim ersten Internet-Hype vor einem Jahrzehnt sei die Demokratisierung der Informationsgesellschaft nur beschworen worden. Jetzt zeichne sie sich in vielen Web-Erscheinungsformen ab. Jeder könne sich zu allem äussern, ob mit eigenem Online-Tagebuch (Blog), Videoaufzeichnung seines Daseins (Vlog) oder mit Fachsimpeleien in Hobby-Foren.
Zwar sei in Deutschland, so der Spiegel, noch kein Buch nachweislich zum Bestseller gemacht worden. In den Vereinigten Staaten sei dies anders. Doch andererseits könnten Feuilleton-Lobhudeleien auch nicht mehr automatisch ein Buch nach oben puschen. Ein Beispiel: Der Familienroman der ehemaligen FAZ-Autorin Eva Menasse sei zwar Anfang des Jahres von der FAZ vorabgedruckt und von Rezensenten in den so genannten "Qualitätsblättern" gelobt und auch noch mit dem Corine-Preis ausgezeichnet worden; den Sprung in die deutsche Bestsellerliste habe er trotzdem nie geschafft.
Die etablierten Feuilletons und einige Verlage reagieren pikiert, so als erlaube sich der ganz normale Leser einen Akt der Majestätsbeleidigung. So spottete die FAZ, die oft meinungsfreudigen Hobby-Besprechungen folgten dem neuen Kanon "powered by emotion". Und der Verleger Joachim Unseld fragte gar: "Wenn da jeder so seinen Sermon reinquatschen kann, wo will man denn da seine Orientierung herbekommen?". Andreas Kurzal vom Verlag C. H. Beck schätzt die Laienmeinung anders ein. "Im Gegensatz zu den Printrezensionen sind diese Kundenrezensionen dauerhaft und durchaus nachhaltig verfügbar", so seine Meinung.
"Wer diesen neuen Trend blockiert, wird auf lange Sicht verlieren", kommentiert der Bonner Journalist und Medienberater Ansgar Lange. Und muss man wirklich traurig sein, wenn das klassische Feuilleton seine Deutungsmacht einbüsst? Rezensionen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sind beispielsweise oft einfach schlecht geschrieben, verschroben und abgehoben. Die Mehrheit der Leser auch der FAZ interessiert sich schlicht nicht für die Bücher, die dort besprochen werden. Mal unter uns: Wer versteht eigentlich die Rezensionen aus der Feder eines Christian Geyer oder Patrick Bahners? Ich ignoriere diese Texte und lese mit wesentlich mehr Gewinn die flotter formulierten Rezensionen in der Literarischen Welt." Als erste Orientierung über neue Bücher registriere er mittlerweile erst immer die Texte, die im Internet stehen. "Früher habe ich die Artikel ausgeschnitten, mit Datum versehen und dann - wenn ich sie brauchte - nicht wiedergefunden. Heute gebe ich Autor und Titel bei einer Suchmaschine ein. Und die Rezensionen, die irgendwann in Printversion erschienen sind, finde ich dort ja auch wieder."
Lange sieht in der Reaktion einiger Zeitungen und Verlage, die sich gegen die neue Entwicklung stemmen, eine Haltung der Arroganz. "Da kommen jetzt die bösen Leser und wollen selber rezensieren. Die feuilletonistischen Sittenwächter reagieren wie deutsche Beamte: Das war noch nie so, das darf nicht sein, das haben wir nie so gemacht. Viele Feuilletonredakteure schreiben doch nur noch für sich und für die Fachwelt. Das ist eine Form der intellektuellen Onanie, und bei der Selbstbefriedigung ist Publikum nun mal nicht erwünscht. Einige Hausmeister beklagen jetzt, im Internet sei dem Missbrauch Tor und Tür geöffnet. Autoren würden unter Pseudonym ihre eigenen Werke besprechen. Oder befreundete Schriftsteller würden sich gegenseitig abjubeln. Wie naiv muss man eigentlich sein? Diese Rezensionskartelle gibt es doch auch seit Urzeiten in der Printlandschaft. Wenn zum Beispiel in der FAZ der Professor X den Professor Y hymnisch bespricht, revanchiert sich dieser ein paar Monate später. Das ist doch auch völlig in Ordnung. Der Leser kann schliesslich entscheiden, welche Besprechungen er lesen will und welche nicht." Kein böser Leser hindere ja heutige Rezensenten daran, so wie Friedrich Sieburg zu schreiben. Sie täten es nur meistens nicht, so der Bonner Publizist. Und der Leser wende sich deshalb zusehends von ihnen ab.