(firmenpresse) - Bonn/Berlin - Je ungemütlicher es in der Berliner Republik wird, umso kuscheliger erscheint die gute alte Bundesrepublik. Für manche ist sie in der Rückschau vielleicht nicht zu dem Land geworden, wo Milch und Honig fliessen, aber durchaus zu einem Mythos. Die eher links angesiedelte Zeitschrift "Ästhetik & Kommunikation" http://www.prkolleg.com/aesthetik/com opfert jetzt sogar ein Doppelheft von über 250 Seiten, um diesen Mythos von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Es geht um Kanzlermythen, die Gruppe 47, den Mythos Rot-Grün, die RAF, die Fernsehserie "Der Kommissar" und vieles andere. Die meisten Artikel sind gut geschrieben und erstaunlich vorurteilsfrei.
Politikwissenschaftler haben der Bundesrepublik das Etikett "Kanzlerdemokratie" aufgeklebt. Der konservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff hielt es Mitte der 1950er Jahre nicht für möglich, dass ein Sozialstaat wie der westdeutsche Teilstaat eine echte politische Autorität zuliesse: "Wer dieser immobilisierten Daseinsordnung künstlicher Art, wie der heutige Staat sie geschaffen hat und trägt, mit dem Anspruch gegenübertritt, hier wirklich zu herrschen, hier wirklich etwas von Grund auf zu verändern, kann nur als störender Staats- und Sozialfeind empfunden werden. Es gibt hier keinen Bewegungsspielraum für echte Herrscher, also auch keine Autorität mehr(...)". Forsthoff sollte irren, denn fast alle Kanzler - bis auf Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger - wurden als starke Führungspersönlichkeiten wahrgenommen, was natürlich nichts über die Qualität ihrer Regierungsarbeit aussagt. Mit echter Autorität ist selbstverständlich nicht das Alpha-Männchen-Gehabe eines Gerhard Schröder am Abend der Bundestagswahl vom 18. September gemeint.
Die identifikatorische Personalisierung und Mythisierung von Politikerpersönlichkeiten wie Adenauer ("Der Alte", der "Gründungskanzler"), Willy Brandt (der "Visionär"), Helmut Schmidt (der "Weltökonom" und "Weltpolitiker") oder auch Helmut Kohl (von "Birne" zum "Kanzler der Einheit"), der vor allem in Kreisen der politisch oft ganz anders denkenden "Jungen Union" zum Mythos geworden ist, trugen zur Stabilität des Staatswesens bei. Jens Hacke hat Recht: "Kohl hat es geschafft, die gesamte Bundesrepublik zu inkorporieren." Und nicht nur bei der Vorstellung des zweiten Bandes seiner Erinnerungen lautet die unmissverständliche Botschaft des Rekordkanzlers: "Helmut Kohl ist die Bundesrepublik". Diese vielleicht nicht immer von den Tatsachen gedeckte Mythisierung der Politikerpersönlichkeiten hat auch zu einer Normalisierung geführt. In Frankreich oder Grossbritannien war und ist die Verehrung "grosser" Frauen und Männer ja etwas völlig normales. Nach den Exzessen des "Führerkults" konnte dies in der Bundesrepublik logischerweise zunächst nicht der Fall sein.
Deutlich schwächer fällt Philipp Gasserts Beitrag über Beate Klarsfelds symbolische Strafaktion gegenüber dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger aus. Die Forschung hat längst deutlich gemacht: Der spätere Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Kanzler der ersten grossen Koalition war im "Dritten Reich" ein Angepasster, aber auf keinen Fall ein Täter. In der Gedankenwelt von Beate Klarsfeld, die der linksradikalen Aktion Demokratischer Fortschritt (ADF) zuneigte, war kein Platz für historische Gerechtigkeit und Differenzierung: "Selbst dem Volk der Täter entstammend, mutierte sie in ihrer Selbstwahrnehmung zur Überlebenden des Holocaust."
Trotz der Hybris der selbst ernannten Nazi-Jägerin wurde Klarsfeld zur vergangenheitspolitischen Ikone. Den nüchternen Betrachter macht eine solche Glorifizierung ratlos, genauso wie Gasserts Schlusssatz: "Was aber erfolgreiche Experiment der Bundesrepublik der Anpassungsfähigkeit von Persönlichkeiten wie Kiesinger aber eben auch Klarsfeld verdankte, wird noch der exakten historischen Klärung bedürfen." Wenn Gassert, der demnächst eine lange angekündigte Kiesinger-Biographie vorlegen wird, damit meint, ein ehemaliger PG und eine linke Amazone seien ganz gut in die Bundesrepublik integriert worden, so ist dieser Vergleich doch mehr als schief.
Die Ohrfeige auf dem Bundesparteitag der CDU im Jahr 1968 ist längst Geschichte. Fast vierzig Jahre sind seither vergangen. Doch nun, wo auch die letzten Alt-68er in der Politik abtreten, um das Land in einem zerrütteten Zustand zu hinterlassen, ist auch aus dem rot-grünen Projekt ganz schnell Geschichte geworden. Zu einem richtigen Mythos taugt es nicht. Kaum jemand weint dem alten Bündnis eine Träne hinterher. Lieber entzündet sich die politisch Phantasie an rot-rot-grünen Stillstands-Bündnissen oder surrealen Jamaika-Koalitionen. Albrecht von Lucke schreibt denn auch von der "Entsorgung einer planetarischen Utopie". Carl Amery, Günther Anders, Robert Jungk, Hans Jonas, Herbert Gruhl, Hoimar von Ditfurth etc: Namen, die keiner mehr kennt, die aber in den 70er und 80er Jahren das Bewusstsein der verschiedenen sozialen und ökologischen Bewegungen prägten. "Nach dem Scheitern der rot-grünen Alternative", schreibt von Lucke, "bleibt scheinbar nur die grosse Alternativlosigkeit, forciertes Wachstum zur Behebung der Krise der Arbeitsgesellschaft." Der Autor plädiert für eine grüne Utopie, die sich gegen die herrschende Produktions- und Wachstumslogik behaupten könne.
Warum haben die fünfziger Jahre, also die Zeit des Wirtschaftswunders, den Stoff für einen Mythos, die 70er und 80er Jahre aber nicht? Kluge Beobachter wie Udo Di Fabio haben zurecht darauf hingewiesen, dass die gesellschaftliche Grundstruktur in der Ära Adenauer noch weitestgehend in Ordnung war. Familie, harte Arbeit, Sparsamkeit, Fleiss, religiöse und menschliche Bindungen auf Dauer, dies alles galt damals vielen noch etwas und wurde von denen bespöttelt, die um 1968 antraten, den Staat und die Menschen umzukrempeln. Die demographische Krise, der von den Gewerkschaften genährte Glaube, mit immer weniger Arbeit lasse es sich immer besser leben, zerfallene Familien und weggebrochene Massstäbe in der Erziehung der jungen Menschen traten an die Stelle der alten Werte. Margaret Thatcher und Ronald Reagan sind in ihren Ländern und darüber hinaus längst zum Mythos geworden, weil sie für wirkliche Reformen standen und daran glaubten, dass sich Arbeitsplätze nur durch Wirtschaftswachstum schaffen lassen. Solche Politiker hätten auch in der rauheren Berliner Republik keine Chance, doch ihre Ideen und Projekte sind allemal anregender als die Sackgassen-Philosophie von Rot-Grün, die dem Staat unter tätiger Mithilfe der grossen Koalition - keiner will es gewesen sein und gewusst haben - auf einen Schlag ein Haushaltsdefizit von 70 Milliarden Euro beschert.
Selbst an der politisch mit Konrad Adenauer hadernden "Gruppe 47" lässt sich studieren, wie vital die Nachkriegszeit war. Alexander Cammann drückt es folgendermassen aus: "Die Betriebsamkeit des Wirtschaftswunders fand im umwälzenden Furor der Gruppe 47 seine ungleiche Schwester." Die Kritiker Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens oder die Literaten Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser, Peter Rühmkorf oder Hans Magnus Enzensberger: Sie mischen alle kräftig weiter mit, denken nicht ans Aufhören und lassen die schriftstellerische Kinder- und Enkelgeneration gar nicht erst zum Zug kommen. Wenn Eva Menasse und Juli Zeh im Wahlkampf für die ES-PE-DE trommeln, dann ist das kaum eine Nachricht wert. Wenn das alte Schlachtross Grass den gleichen kraftvollen Unsinn von sich gibt wie vor zwanzig Jahren, dann ist das schon eher von Interesse. In dem gelungenen Doppelheft kann sich jeder Leser selbst heraussuchen, welche Mythen der alten Bundesrepublik ihn interessieren. Den zumeist linken Beiträgern der ä & k-Redaktion - Odo Marquard und Hermann Lübbe fallen hier aus dem Rahmen - ist es besonders zu danken, dass sie der terroristischen RAF alles Mythische absprechen. Die RAF-Ausstellung oder hippe Modemacher ("Prada-Meinhof") haben ja bekanntlich den gegenteiligen Versuch gestartet, der hoffentlich zum Scheitern verurteilt ist.
Ästhetik & Kommunikation 129/130, 2005, 20 Euro