(ots) - Ein Grenzfall der Demokratie
von Joerg Helge Wagner Es ist ein bislang einmaliger Vorgang in
dieser Republik: Ãœber den Fortgang eines verkehrspolitischen
Großprojekts soll in einem Schlichtungsverfahren entschieden werden -
wie bei einer Tarifrunde, in der Arbeitnehmerforderung und
Arbeitgeberangebot so weit auseinanderliegen, dass Streik droht. Was
aber droht in Stuttgart? Machtverlust der schwarz-gelben
Regierungskoalition? Das Ende der Zukunftsfähigkeit Deutschlands?
Revolution und Bürgerkrieg? Offenbar alles zusammen denn sonst würden
nicht Grünen-Chefin Roth und der liberale Wirtschaftsminister
Brüderle dieses Schlichtungsverfahren gleichermaßen prima finden. Und
der alte Kämpe Heiner Geißler, der es nun moderieren soll, ist
offenbar alternativlos erste Wahl. Schließlich hatte ihn zuerst
Claudia Roth ins Gespräch gebracht - noch bevor er gestern von Stefan
Mappus, dem bedrängten baden-württembergischen Regierungschef,
vorgeschlagen wurde. Geißler hat x-mal Tarifstreitigkeiten
geschlichtet. Die Landesregierung akzeptiert ihn, weil er immer noch
CDU-Mitglied ist. Die Stuttgart-21-Gegner vertrauen ihm, weil er auch
der globalisierungskritischen Organisation Attac angehört. Und alle
anderen finden es beruhigend, dass er schon seit 2002 nicht mehr im
politischen Geschäft ist - und mit 80 Jahren auch bestimmt nicht mehr
dorthin zurück will. Dabei ist seine künftige Aufgabe immens
politisch. An seinem Verhandlungsgeschick hängt nicht nur das
Schicksal von Ministerpräsident Mappus, sondern auch das von
Bahn-Chef Grube und nicht zuletzt von Kanzlerin Angela Merkel. Bringt
Geißler einen Kompromiss zustande, der sowohl das Schwabenland
befriedet als auch das Projekt Stuttgart 21 rettet, kämen CDU und FDP
bei der Landtagswahl im März wohl mit einem blauen Auge davon - und
damit auch die Kanzlerin und CDU-Chefin Merkel. In Erklärungsnot wäre
die SPD, die das Projekt erst jahrelang mitgetragen hat, dann aber
plötzlich den aufwallenden Druck der Straße in einen juristisch
höchst fragwürdig konstruierten Volksentscheid umlenken wollte. Der
kommt aber nicht. Doch wer hat diejenigen gewählt, die nun für die
UmbauGegner auf Augenhöhe mit der Landesregierung in die Schlichtung
gehen? Wie verbindlich ist der Schlichterspruch? Wie weit kann er
sich vom Ergebnis eines Genehmigungsverfahrens entfernen, dass sich
über sieben Jahre hinzog, 14 Einzelpläne umfasste, unzählige
Bürgersprechstunden und Erörterungstermine? Dabei wurden 13
Beschwerden bearbeitet und drei Klagen letztinstanzlich abgewiesen;
die Parlamente auf kommunaler, Landes- und Bundesebene waren
beteiligt. Die von den Gegnern vorgebrachten Einwände - hohe Kosten,
ökologische Folgen, mangelnder Nutzen - gab es in all den Jahren.
Nur: Sie konnten weder die Parlamente noch die Gerichte überzeugen.
Ist Stuttgart 21 also ein Lehrstück über die Grenzen der
repräsentativen Demokratie? Doch Straßenproteste und
Bauplatzbesetzungen als letzte Instanz, wenn Teilen der Bevölkerung
rechtsstaatlich einwandfreie Entscheidungen nicht passen, sind nicht
akzeptabel. Auch dann nicht, wenn der Protest von Schülern und
Rentnern mitgetragen wird. Eine demokratisch gewählte Regierung kann
also nur ein Schlichtungsergebnis mittragen, das ihre bisherige
Politik weitgehend bestätigt. Das weiß auch Heiner Geißler. Also wird
er etwas weiße Salbe anbieten: Der Südflügel wird irgendwie erhalten,
vielleicht bleiben auch mehr Bäume stehen als geplant. Stuttgart 21
aber wird kommen - und es wird bestimmt nicht billiger werden.
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