(ots) - Vom 1. bis 5. Februar 2011 hat eine Delegation
der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Soldatinnen und
Soldaten der Deutschen Bundeswehr sowie zivile Aufbauprojekte in
Masar-i-Sharif (Afghanistan) besucht. Der Delegation gehörten neben
dem Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider, der
Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Pastor Renke Brahms, sowie der
evangelische Militärbischof, Landessuperintendent Martin Dutzmann,
an.
Nach der Rückkehr sagte der Ratsvorsitzende heute in Düsseldorf:
"Wahrzunehmen und zuzuhören - das war der wichtigste Zweck unserer
Reise. Zudem gilt: Viele Soldatinnen und Soldaten sind unsere
Gemeindeglieder, und gute Pfarrer besuchen ihre Leute!" Die Gespräche
hätten ihn sehr beeindruckt, so Schneider weiter. Er sei angetan
davon, "wie intensiv Angehörige der Bundeswehr ihren Einsatz und ihre
persönliche Situation reflektierten." Allerdings hätten die
Soldatinnen und Soldaten den Eindruck, dass häufig "auf ihrem Rücken"
politische Streitigkeiten ausgetragen würden, "die nichts mit ihnen
zu tun haben." Schneider bekräftigte, dass die Angehörigen der
Bundeswehr gerade angesichts der besonderen Situation in Afghanistan
der "aufmerksamen und umfassenden seelsorglichen Begleitung"
bedürften.
Schneider sagte, im Gespräch mit Vertretern ziviler Organisationen
in Afghanistan habe ihn positiv überrascht "wie viel dort geschieht".
Auch habe er eine "neue Sicht" auf das Thema Sicherheit gewonnen.
Schneider: "Die Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
zivilen Organisationen sagten uns, dass es zurzeit noch nötig ist,
dass die Bundeswehr mithilft, Sicherheit in der Fläche zu
gewährleisten. So kann die zivile Aufbauarbeit beginnen. Aber auf
Dauer, so der Ratsvorsitzende, könne nur eine andere Art von
Sicherheit "nachhaltig" wirken, nämlich, dass die Aufbauarbeit von
der afghanischen Bevölkerung gewollt und mitgetragen wird. Diese
nachhaltige, langfristige Art von Sicherheit könne von der Bundeswehr
nur "vorbereitet", aber nicht "erzeugt und garantiert" werden.
Deswegen sei es wichtig, so Schneider weiter, dass die "vollständige
Übergabe der militärischen und polizeilichen Sicherheitsaufgaben von
der Bundeswehr an die afghanischen Kräfte" bald vollzogen werden
könne, denn die Bundeswehr sei schon fast zehn Jahre im Land und
deutsche Soldaten dürften nicht zu "Besatzern" werden.
In einer ersten Bilanz fasste der Ratsvorsitzende seine Eindrücke
so zusammen: "Es gibt Hoffnung in Afghanistan - aber es ist Hoffnung
auf dünnem Eis. Das heißt: Allen Hoffnungszeichen zum Trotz kann die
Mission auch scheitern. Das haben wir bei allen Gesprächspartnern -
den militärischen und zivilen - deutlich gehört. Deswegen kommen wir
nicht ohne Hoffnung zurück, aber keineswegs sorgenfrei, denn das Eis
kann brechen."
Der Friedensbeauftragte der EKD und leitende Geistliche der
Bremischen Evangelischen Kirche, Renke Brahms, erinnerte daran, dass
die EKD bereits vor einem Jahr in ihrem Wort "Aus Gottes Frieden
leben - für gerechten Frieden sorgen" ein stärkeres Augenmerk für die
zivile Aufbauarbeit gefordert habe. Er bedaure sehr, dass die
Mandatsverlängerung im Deutschen Bundestag am 28. Januar 2011 wieder
eine "rein militärische" gewesen sei. Es wäre angemessen gewesen,
wenn es neben der offiziellen militärischen auch eine offizielle
zivile Mandatierung gegeben hätte. Der öffentliche Blick, so Brahms,
sei leider sehr auf das "rein militärische" fokussiert, dabei sei
auch auf dem Sektor des zivilen Aufbaus schon längst vieles "in Gang
gekommen".
Im Blick auf den Fortgang der zivilen Projekte forderte Brahms
eine "bessere Kommunikation und Koordination der am
Afghanistaneinsatz beteiligten Bundesministerien" Hier gebe es, so
hätten Gesprächspartner in Afghanistan bestätigt, "noch viele
Entwicklungsmöglichkeiten", die für den Erfolg der zivilen Mission
von großer Bedeutung seien. Positiv wertete Brahms hingegen, dass es
im vergangenen Jahr 2010 nahezu eine Verdoppelung der zivilen
Aufbaumittel für Afghanistan durch die Bundesregierung gegeben habe.
Der Friedensbeauftragte beurteilte die neue offensive Strategie
der Bundeswehr kritisch, und äußerte "große Zweifel", ob die neue,
deutlich offensivere Strategie der ISAF-Truppen in Afghanistan mit
der bisherigen friedensethischen Ausrichtung der evangelischen Kirche
in Einklang zu bringen sei. Schließlich forderte Brahms, dass
finanzielle Mittel, die frei würden, wenn die deutschen Soldaten und
Soldatinnen sich aus Afghanistan zurückzögen, in der Form von
Entwicklungshilfe den Menschen in Afghanistan zugutekommen solle.
Brahms: "Nur wenn es eine Ãœbergabedividende gibt, die dem im Aufbau
befindlichen Land zugutekommt, kann die Exit-Strategie zum Erfolg
führen."
Der evangelische Militärbischof Martin Dutzmann wertete positiv,
dass im jüngsten Bericht der Bundesregierung erstmals eine "ehrliche
Zwischenbilanz" zu lesen sei. Er hob hervor, dass die
Mandatsverlängerung vom 28. Januar erstmals "die Reduktion bzw. das
Ende des militärischen Engagements" in den Blick genommen habe.
Allerdings warnte Dutzmann ausdrücklich vor Euphorie, denn: "Mit der
neuen Strategie ist der Einsatz erheblich gefährlicher geworden!"
Mehr denn je bräuchten Soldatinnen und Soldaten deswegen
seelsorgliche Begleitung, denn neben den Problemen, die die lange
Trennung von ihren Angehörigen bereiteten, werfe die neue
Einsatzstrategie "grundlegende ethische Fragen" auf.
Deshalb hätten "unsere Soldatinnen und Soldaten" einen Anspruch
darauf zu erfahren, für welche Zwecke die Bundesrepublik Deutschland
ihre Streitkräfte einsetze - und für welche nicht. Diese Frage, so
Dutzmann, sei nach dem Ende des Kalten Krieges "bis heute" nicht
beantwortet. Dutzmann: "Erst seit der Bombardierung zweier
gestohlener Tanklastzüge nahe Kunduz im September 2009 ist in der
Öffentlichkeit klar, dass deutsche Soldaten in Ausführung ihres
Auftrages kämpfen und töten." Angesichts der damit verbundenen
ethischen und seelsorglichen Fragen, so der Militärbischof, müsse es
ein "sicherheitspolitisches Gesamtkonzept" geben.
Abschließend sagte Dutzmann, dass im vergangenen Jahr 2010 im
Blick auf das deutsche Engagement in Afghanistan "einiges geschafft"
worden sei. Das gebe Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Gleichzeitig
aber sei beim Besuch in Afghanistan klar geworden, dass "neue
Herausforderungen" zu bewältigen seien.
Düsseldorf/Hannover, 6. Februar 2011
Pressestelle der EKD
Reinhard Mawick
Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen- Ein
evangelisches Wort zu Krieg und Frieden in Afghanistan unter
http://www.ekd.de/presse/pm22_2010_afghanistan.html
Achtung! Es gilt das gesprochene Wort!
Nikolaus Schneider, Vorsitzender des Rates der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD)
"Hoffnung auf dünnem Eis" Ratsvorsitzender zur EKD-Reise nach
Afghanistan
Anlässlich der Rückkehr seiner gemeinsamen Reise mit dem
Friedensbeauftragten der EKD, Renke Brahms, und dem evangelischen
Militärbischof, Martin Dutzmann, aus Afghanistan, erklärte der
Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider:
"Nichts ist gut in Afghanistan" - dieser Satz meiner
Amtsvorgängerin Margot Käßmann hat vor gut einem Jahr eine breite und
lange fällige Debatte in Deutschland ausgelöst. Ich habe damals
bedauert, dass in der Öffentlichkeit nicht immer an erster Stelle das
seelsorgliche Anliegen deutlich wurde, das uns damals bewegte. Uns
alle trieb die Sorge um die Sicherheit, um Leib, Leben und
Wohlergehen der in Afghanistan tätigen deutschen Soldatinnen,
Soldaten und Zivilpersonen um. Das galt damals, und das gilt auch
heute.
Gestern sind der Friedensbeauftragte der EKD, der evangelische
Militärbischof und ich aus Afghanistan zurückgekehrt. Wir haben die
in Afghanistan stationierten deutschen Soldatinnen und Soldaten
besucht, und wir sind mit Vertreterinnen und Vertreter staatlicher
und nichtstaatlicher Hilfsorganisationen zusammengetroffen. Auf
unserer Reise hatten wir unmittelbaren Kontakt mit Soldatinnen und
Soldaten aller Dienstränge. Wir haben in intensiven Gesprächen von
ihren Aufgaben, ihren besonderen Belastungen und ihren Nöten
erfahren.
Wahrzunehmen und zuzuhören - das war der wichtigste Zweck unserer
Reise. Zudem gilt: Viele Soldatinnen und Soldaten sind unsere
Gemeindeglieder, und gute Pfarrer besuchen ihre Leute! Die Gespräche
haben uns außerordentlich beeindruckt. Ich war angetan davon, wie
intensiv Angehörige der Bundeswehr ihren Einsatz und ihre persönliche
Situation reflektierten. Allerdings äußerten sie sich immer wieder
bitter und enttäuscht über das geringe öffentliche Interesse hier in
Deutschland an ihrer Situation. Die Soldatinnen und Soldaten haben
den Eindruck, dass auf ihrem Rücken sehr häufig politische
Streitigkeiten ausgetragen werden, die nichts mit ihnen zu tun haben.
Klar ist: Die Angehörigen der Bundeswehr bedürfen gerade
angesichts ihrer besonderen Situation dort unserer aufmerksamen und
umfassenden seelsorglichen Begleitung. Deshalb danke ich der
Seelsorge in der Bundeswehr ausdrücklich für ihren wichtigen und
gefährlichen Dienst in Afghanistan und bei anderen Auslandseinsätzen
der Bundeswehr! In diesem Zusammenhang war es mir sehr wichtig, mit
den Soldatinnen und Soldaten Gottesdienst zu feiern. Gottes Wort
gehört auch in diese Situation. Im Abendmahl haben wir
geschwisterliche Gemeinschaft erfahren.
Wir haben auch mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener
ziviler Organisationen in der Stadt Mazar-i-Sharif gesprochen. Ich
war positiv überrascht, wie viel dort geschieht. So konnte ich einen
Baum vor einer neuerbauten Schule in Mazar-i-Sharif pflanzen. So habe
ich gerne zur Kenntnis genommen, dass es eine Organisation gibt, die
die Errichtung und den Betrieb von Frauenhäusern in Afghanistan
organisiert und vorantreibt. So haben wir einem Vertreter der
unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission getroffen, der von
zwar bescheidenen aber stetigen Erfolgen in der Zusammenarbeit mit
der afghanischen Regierung berichtete.
In Afghanistan habe ich eine neue Sicht auf das Thema "Sicherheit"
gewonnen. Die Mehrzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
zivilen Organisationen sagten uns, dass es zurzeit noch nötig ist,
dass die Bundeswehr mithilft, Sicherheit in der Fläche zu
gewährleisten. So kann die zivile Aufbauarbeit beginnen. Das ist gut.
Auf Dauer aber kann nur eine andere Art von Sicherheit nachhaltig
wirken. Diese andere Sicherheit heißt, dass die Aufbauarbeit von der
afghanischen Bevölkerung gewollt und mitgetragen wird. Diese
nachhaltige, langfristige Art von Sicherheit kann von der Bundeswehr
nur vorbereitet, aber nicht erzeugt und garantiert werden.
Deswegen ist es wichtig, dass die vollständige Übergabe der
militärischen und polizeilichen Sicherheitsaufgaben von der
Bundeswehr an die afghanischen Kräfte bald vollzogen werden kann. Die
optimistischen Berichte von den deutschen Ausbildern der afghanischen
Polizei haben wir mit Interesse gehört. Generell gilt: Der Abzug der
Bundeswehr aus Afghanistan muss verantwortlich angegangen werden, und
er muss bald angegangen werden. Fast zehn Jahre ist die Bundeswehr im
Land. Deutsche Soldaten dürfen nicht zu Besatzern werden!
"Nichts ist gut in Afghanistan?" - Ich sage unmittelbar nach der
Rückkehr von dieser Reise: Es gibt Hoffnung in Afghanistan - aber es
ist Hoffnung auf dünnem Eis. Das heißt: Allen Hoffnungszeichen zum
Trotz kann die Mission auch scheitern. Das haben wir bei allen
Gesprächspartnern - den militärischen und zivilen - deutlich gehört.
Deswegen kommen wir nicht ohne Hoffnung zurück, aber keineswegs
sorgenfrei, denn das Eis kann brechen.
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Achtung! Es gilt das gesprochene Wort!
Renke Brahms, Friedensbeauftragter des Rates der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD)
"Vorrang für Zivil" Friedensbeauftragter zur EKD-Reise nach
Afghanistan
Anlässlich der Rückkehr seiner gemeinsamen Reise mit dem
Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider und dem
evangelischen Militärbischof, Martin Dutzmann, aus Afghanistan,
erklärte der Friedensbeauftragte der EKD, Renke Brahms:
In der Evangelischen Kirche in Deutschland gilt in
friedensethischen Fragen der Grundsatz: Vorrang für Zivil. Deswegen
ist es folgerichtig, dass ich als Friedensbeauftragter der EKD
zusammen mit dem Ratsvorsitzenden und dem Militärbischof nach
Afghanistan gereist bin, um mich mit ihnen zusammen über den zivilen
Aufbau zu informieren. Außerdem bin ich Vorsitzender des Beirates für
die Seelsorge in der Bundeswehr und begleite beratend die Arbeit des
Militärbischofs. Schon allein deswegen bin auch sehr interessiert an
allem, was die Situation der Soldatinnen und Soldaten und die
Seelsorge in der Bundeswehr betrifft. Ich möchte zu den Beispielen,
die der Ratsvorsitzende vorhin genannt hat, noch weitere nennen:
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BZW) und der in
seinem Auftrag tätigen Gesellschaft für Internationalen
Zusammenarbeit (GIZ) haben uns von zahlreichen Infrastrukturprojekten
in der Nordregion erzählt. Diese Beispiele waren genauso ermutigend,
wie der Besuch einer neu geschaffenen Ausbildungsstätte für
Lehrerinnen und Lehrer in Mazar-i-Sharif und das Gespräch mit einer
Vertreterin der Christoffel-Blindenmission. Es war für mich
beeindruckend zu erleben, wie engagiert die deutschen Zivilkräfte
dort gemeinsam mit Afghaninnen und Afghanen zusammen wirken.
Eine bessere Kommunikation und Koordination der am
Afghanistaneinsatz beteiligten Bundesministerien ist aber dringend
nötig. Hier gibt es, das bestätigten unsere Gesprächspartner in den
Projekten, noch viele Entwicklungsmöglichkeiten, die für den Erfolg
der zivilen Mission von großer Bedeutung sind.
Es ist ausgesprochen bedauerlich, dass die Erfolge ziviler
Aufbauarbeit in Afghanistan bisher in der öffentlichen Diskussion und
Wahrnehmung in Deutschland kaum vorkommen. Ich hätte es deshalb
angemessen gefunden, wenn der Deutsche Bundestag neben der
offiziellen militärischen auch eine offizielle zivile Mandatierung
ausgesprochen hätte. Dies hat die EKD bereits vor einem Jahr
gefordert. In unserem "evangelischen Wort zu Krieg und Frieden in
Afghanistan, das den Titel trägt: "Aus Gottes Frieden leben - für
gerechten Frieden sorgen" vom 25. Januar 2010 haben wir gefordert:
"Das politische Konzept für Afghanistan hat neben der zivilen auch
eine militärische Seite. Sie ist von vornherein unter dem
Gesichtspunkt zu betrachten, wie der Aufbau der Zivilgesellschaft
geschützt und gefördert werden kann. Wir werben dafür, dass nicht die
militärische Logik das Denken, Planen und Organisieren für
Afghanistan beherrscht, sondern dass den zivilen Anstrengungen der
Vorrang zukommt, der ihnen in friedensethischer Hinsicht gebührt."
Die Mandatsverlängerung im Deutschen Bundestag am 28. Januar war
wieder "rein militärisch" - das bedaure ich. Unser öffentlicher Blick
ist leider sehr auf das "rein militärische" fokussiert, dabei ist
auch auf dem Sektor des zivilen Aufbaus schon längst vieles in Gang
gekommen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Eine zusätzliche zivile
Mandatierung bedeutet keinesfalls, dass die militärischen und zivilen
Aufgaben sozusagen synchron "im Doppelpack" angegangen werden sollen.
Hier haben wir bei unseren Gesprächen in Afghanistan bestätigt
bekommen, dass es durchaus zwei verschiedene Logiken der
militärischen und zivilen Arbeit gibt - und das ist auch gut so.
Weder dürfen die zivilen Instrumente in die militärischen
"eingebettet" sein, noch dürfen sie gar instrumentalisiert werden.
Viele Entwicklungshilfe-Organisationen betonen, dass gerade in der
Verwechslung und Vermischung beider Ansätze eine Gefahr für sie
besteht und dass sie oft sehr viel besser arbeiten können, wenn klar
ist, dass sie unabhängig vom Militär arbeiten.
Es ist positiv zu werten, dass es im vergangenen Jahr 2010 nahezu
eine Verdoppelung der zivilen Aufbaumittel für Afghanistan durch die
Bundesregierung gegeben hat. Die Vertreterinnen und Vertreter der
zivilen Kräfte betonten, dass es im Moment nicht mangelnde
Finanzmittel sind, die ihre Arbeit hemmen, sondern die noch
aufzubauenden Strukturen im Land und auch die schwierige Gewinnung
von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dennoch sind weiter mehr als
200 deutsche Entwicklungshelferinnen und -helfer in der Nordregion
tätig. Sie leben nicht in befestigen Hochsicherheitslagern, sondern
inmitten der afghanischen Städte und Dörfer. Ich finde, es ist
dringend nötig, über Konzepte der Seelsorge für diesen Personenkreis
nachzudenken und ihre Realisierung in die Wege zu leiten. Für sie und
ihre Arbeit gilt in besonderem Maße das Wort Jesu: "Selig sind die
Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen."
Ich verhehle nicht: Die neue offensive Strategie der Bundeswehr
beurteile ich kritisch. Ich habe große Zweifel, ob die neue, deutlich
offensivere Strategie der ISAF-Truppen in Afghanistan mit der
bisherigen friedensethischen Ausrichtung der evangelischen Kirche in
Einklang zu bringen ist. Es ist und bleibt sehr zu bedauern, dass in
den Jahren seit Beginn des militärischen Engagements in Afghanistan
viele Möglichkeiten durch falsche Strategien verschenkt worden sind.
Der Ratsvorsitzende hat eben gesagt, dass die Bundeswehr
verantwortlich aber so schnell wie möglich ihre Aufgaben an die
einheimischen Sicherheitskräfte übergeben soll. In diesem
Zusammenhang möchte ich an den Begriff der "Übergabedividende"
erinnern: Die finanziellen Mittel, die frei werden, wenn die
deutschen Soldaten und Soldatinnen sich aus Afghanistan zurückziehen,
müssen auf absehbare Zeit diesem Land auf andere Weise zugutekommen:
in der Form von Entwicklungshilfe, als Unterstützung für den Aufbau
des eigenen Sicherheitsapparats, für zivile Friedensprojekte. Nur
wenn es eine Ãœbergabedividende gibt, die dem im Aufbau befindlichen
Land zugutekommt, kann die Exit-Strategie zum Erfolg führen.
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Achtung! Es gilt das gesprochene Wort!
Martin Dutzmann, Evangelischer Militärbischof
"Vor Gott verantworten" Militärbischof zur EKD-Reise nach
Afghanistan
Anlässlich der Rückkehr seiner gemeinsamen Reise mit dem
Vorsitzende des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider und dem
Friedensbeauftragte der EKD, Renke Brahms, aus Afghanistan, erklärte
der evangelischen Militärbischof, Martin Dutzmann:
Vor etwas mehr als einem Jahr hat die EKD auf der Basis der
Friedensdenkschrift von 2007 Stellung zur Situation in Afghanistan
genommen. Nach unserem gerade beendeten Besuch bei den Soldaten der
Bundeswehr sowie bei zivilen Hilfsorganisationen fragen wir: Sind
wenigstens einige unserer damaligen Anregungen aufgenommen worden?
Hat sich die Situation im Land wenigstens ein bisschen zum Positiven
verändert? Im Grundsatz kann ich diese Fragen heute bejahen.
Wir hielten aus ethischen Gründen eine Auswertung des bisherigen
Einsatzes, eine klare Zielsetzung für das weitere Engagement sowie
eine Reflexion auf das Ende seiner militärischen Komponente für
unabdingbar. In allen drei Punkten sind wir heute erkennbar weiter
als noch vor einem Jahr: Der "Fortschrittsbericht" der
Bundesregierung vom Dezember 2010 - ich würde lieber von einem
"Statusbericht" sprechen - versucht erstmals eine ehrliche
Zwischenbilanz. Die Mandatsverlängerung vom 28. Januar 2011 nimmt mit
den Jahren 2011 und 2014 zum ersten Mal die Reduktion bzw. das Ende
des militärischen Engagements in den Blick. Das impliziert eine
Rechenschaftspflicht zu den genannten Zeitpunkten. Und schließlich:
Mit dem Wechsel zur Strategie der "Counterinsurgency" (COIN) sind die
Ziele, die die internationale Gemeinschaft in Afghanistan verfolgt,
deutlich genauer beschrieben als bisher.
Dennoch gibt es keinerlei Grund zur Euphorie, denn mit der neuen
Strategie ist der Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten
erheblich gefährlicher geworden! Sie gehen jetzt offensiver gegen
Aufständische vor, um einen sicheren Raum für den zivilen Aufbau bzw.
Wiederaufbau bereit zu stellen. Mir deuten sich folgende Konsequenzen
aus dieser veränderten Situation an.
1) Seelsorgerlich und ethisch: In der Seelsorge spielen nun
zunehmend neben den trennungsbezogenen Problemen (Meine Frau
hat lange nicht geschrieben. Mein Kind ist krank. Mein Opa
liegt im Sterben...) diese Fragen eine Rolle: Was ist, wenn ich
einen Menschen töten muss oder getötet habe? Was ist, wenn ich
als Vorgesetzter meinen Untergebenen zumuten muss, einen
Menschen zu töten? Was ist, wenn ich selbst verwundet werde
oder im Gefecht falle? Damit sind ethische Fragen verbunden.
Ein Hauptfeldwebel einer Sanitätseinheit sagte uns: "Ich glaube
nicht, dass Gott gefällt, was wir hier tun. Ich sehe aber
keinen anderen Weg und bin weiterhin gern Soldat. Ich weiß,
dass ich mich vor Gott werde verantworten müssen." Damit unsere
Soldaten mit diesen Fragen nicht allein sind, darf bei der
bevorstehenden Umstrukturierung der Bundeswehr die Anzahl der
Seelsorgerinnen und Seelsorger keinesfalls verringert werden.
2) Politisch: Nicht erst heute, aber heute ganz besonders haben
unsere Soldatinnen und Soldaten einen Anspruch darauf zu
erfahren, für welche Zwecke die Bundesrepublik Deutschland ihre
Streitkräfte einsetzt - und für welche nicht. Diese Frage wurde
nach dem Ende des Kalten Krieges bis heute nicht wirklich
beantwortet. Nachdem die Landesverteidigung nicht mehr im
Vordergrund stand, gab es zunächst eine Phase, in der die
Bundeswehr in humanitäre Einsätze geschickt wurde, was ihr das
Image eines bewaffneten technischen Hilfswerkes einbrachte.
Daran änderten weder die Luftschläge auf die Bundesrepublik
Jugoslawien noch zunächst der Afghanistaneinsatz etwas. Erst
seit der Bombardierung zweier gestohlener Tanklastzüge nahe
Kunduz im September 2009 ist in der Öffentlichkeit klar, dass
deutsche Soldaten in Ausführung ihres Auftrages kämpfen und
töten. Angesichts der damit verbundenen ethischen und
seelsorgerlichen Fragen muss es ein sicherheitspolitisches
Gesamtkonzept geben. Ein Weißbuch, das zudem kaum zur Kenntnis
genommen wird, reicht hier einfach nicht aus.
Fazit: Im vergangen Jahr ist im Blick auf das deutsche Engagement
in Afghanistan einiges geschafft worden. Das gibt Anlass zu
vorsichtigem Optimismus. Zugleich ist uns bei unserem Besuch vor Ort
klar geworden, dass neue Herausforderungen zu bewältigen sind.
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