PresseKat - Der russische Schriftsteller Michail Schischkin und "Das Venushaar"

Der russische Schriftsteller Michail Schischkin und "Das Venushaar"

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Der russische Schriftsteller Michail Schischkin lebt seit 1995 weitgehend unbeachtet in der
Schweiz. Ganz anders in Russland: Dort wurde Schischkin als bisher einziger Schriftsteller mit
den drei wichtigsten Literaturpreisen des Landes ausgezeichnet. Seine BĂŒcher werden in 14
Sprachen ĂŒbersetzt und das angesehene „Times Literary Supplement“ stellt Michail
Schischkin in eine Reihe mit Tolstoi, Dostojewski und Puschkin.

(firmenpresse) - Von JĂŒrg Vollmer / maiak.info

„Fast alle Russen, welche die russische Kultur schufen und die russische Geschichte
zugrunde richteten, besuchten die Schweiz.“ Michail Schischkin schmunzelt und zĂ€hlt sie
auf: Die Schriftsteller Dostojewski, Gogol, Nabokov, Solschenizyn und Tolstoj ebenso wie
die RevolutionÀre Lenin und Trotzki.

500 Russen, die in der Schweiz ihre Spuren hinterlassen haben, fand Michail Schischkin.
Sie kamen nach der unterdrĂŒckten MilitĂ€rverschwörung der Dekabristen 1825, wĂ€hrend der
letzten Jahrzehnte der Zarenzeit im 19. Jahrhundert, nach der Oktoberrevolution 1917 und
zuletzt wÀhrend des Sowjet-Regimes bis 1991.

Dabei entstand eine eigentliche russische Schweiz, die von Genf ĂŒber ZĂŒrich bis in die
Alpenstadt Davos reichte. Und so heisst denn auch Schischkins Buch mit 500 russischen
Lebens- und Leidensgeschichten: „Die russische Schweiz“.

501 Geschichten ĂŒber Russen in der Schweiz

Eigentlich sind es 501 Geschichten, denn seine eigene gehört dazu. Der 1961 in Moskau
geborene Michail Schischkin arbeitete nach einem Germanistik- und Anglistik-Studium an
der PĂ€dagogischen Hochschule zuerst drei Jahre als Journalist fĂŒr die Jugendzeitschrift
„Rowesnik“, danach unterrichtete er zehn Jahre Deutsch und Englisch an der Schule
Nummer 444 in Moskau.

1993 veröffentlichte Schischkin in der russischen Literaturzeitschrift „Snamja“ die
Kurzgeschichte „Urok Kalligrafii“ („Die Kalligraphiestunde“) und seinen ersten Roman
„Omnes una manet nox“ (Nach Horaz: „Uns alle erwartet die eine Nacht“ [des Todes]).
Obwohl die Kurzgeschichte 1994 als „bestes russisches Debut des Jahres“ ausgezeichnet
wurde und sich sein Erfolg als Schriftsteller abzeichnete, verliess Schischkin Russland und
landete im doppelten Sinne des Wortes in ZĂŒrich.

„Ich bin aber kein Emigrant“, betont Michail Schischkin, der aus privaten GrĂŒnden in die




Schweiz zog. In Moskau hatte er eine Schweizer Slawistin kennen gelernt und zog mit ihr
1995 wegen der Geburt des gemeinsamen Sohnes nach ZĂŒrich. Hier verdiente er bis 2005
sein Brot als Russischlehrer und Dolmetscher fĂŒr das Migrationsamt. Seither ist das BĂŒcher
schreiben Schischkins Brotberuf, „wobei das Brot manchmal sehr hart ist“, wie er ergĂ€nzt.

„Die russische Schweiz“ ist ein Roman ĂŒber Russland

Hier entdeckte Michail Schischkin eben jene 500 prominenten Russen, welche die Schweiz
seit 1825 als Touristen besucht oder hier sogar eine neue Heimat gefunden hatten. Und
weil weder die Schweizer noch die Russen sich dieser „Beziehung“ bewusst waren, schrieb
er ein Buch ĂŒber „Die russische Schweiz“, das 2000 in Russisch und 2003 beim ZĂŒrcher
Limmat-Verlag in Deutsch erschien.

Kurioserweise seien nicht nur die Schweizer davon ĂŒberzeugt, dass kein AuslĂ€nder sie
verstehen könne, dass sie ein Sonderfall sind. So denke man auch in Russland: „Das ist
es, was Schweizer und Russen gemeinsam haben“, stellt Schischkin fest.

Mit der Distanz von zehn Jahren findet Michail Schischkin sowieso, dass sein literarisch-
historischer ReisefĂŒhrer eigentlich eher „ein Roman ĂŒber Russland ist, ĂŒber die krankhafte
russische Geschichte. Alle meine 500 russischen Helden haben ĂŒber die Schweiz
geschrieben, wie in einem Spiegel sahen sie in ihren Notizen, TagebĂŒchern und Briefen
aber nur eine Reflexion ihrer selbst und der hassgeliebten Heimat“.

Russland ein gutes Land fĂŒr Starke und ein total bescheuertes fĂŒr Schwache!

Michail Schischkin zeigt sich deshalb wenig erstaunt, dass diese Russen die Willensnation
Schweiz ohne eine gemeinsame Sprache und ohne gemeinsame Religion nicht als Vorbild
fĂŒr den eigenen Vielvölkerstaat gesehen und nach Hause genommen haben.

„Russland fĂŒhrt Krieg mit sich selbst und kommt aus dem Krieg nicht heraus, weil diese
Erbitterung innen steckt und von Generation zu Generation weitergegeben wird“, stellt
Schischkin konsterniert fest. „Im Krieg gewinnt immer der StĂ€rkste. Deshalb ist Russland
ein gutes Land fĂŒr Starke und ein total bescheuertes fĂŒr Schwache!“

Russischer Booker-Preis fĂŒr „Die Eroberung von Ismail“

Sein zweiter Roman spielt trotzdem — oder gerade deswegen — in Russland. „Die
Eroberung von Ismail“ erinnert an den Sturm der gleichnamigen tĂŒrkische Festung bei
Odessa in der heutigen Ukraine im Jahre 1790 durch General Suworow. Auch Schischkins
Protagonisten sind Eroberer, allerdings in friedlicher Mission, sie erobern die russische
Sprache, ihre Literatur und ihre Mythen.

Denn Michail Schischkin definiert Russland in „Die Eroberung von Ismail“ nicht historisch
oder politisch, sondern literarisch. Seine Helden sind nicht Handlungsfiguren, sondern die
russische Literatur von der byzanthinischen Heiligenlegende ĂŒber die dröge
Kanzleisprache bis zum deftigen Fluchwortschatz „Mat“. Frei nach Osip Mandelstam: „In
Russland benutzt man die Schimpfwörter nicht zum Fluchen, sondern zum Sprechen“.

„Die Eroberung von Ismail“ wurde im Dezember 2000 mit dem russischen Booker-Preis fĂŒr
den besten Roman des Jahres ausgezeichnet.

Michail Schischkins Wanderung „Montreux-Missolunghi-Astapowo“

2001 wanderte Michail Schischkin auf den Spuren von Lew Tolstoi und Lord Byron vom
Genfersee ins Berner Oberland. Er liest dabei ihre TagebĂŒcher und schreibt ein eigenes,
aus dem das Buch „Montreux-Missolunghi-Astapowo“ entsteht. Wobei die griechische
Hafenstadt Missolunghi 1823 und das BahnwÀrterhÀuschen im russischen Astapowo 1910
fĂŒr die Stazione Termini von Byron und Tolstoi stehen.

Unterwegs reflektiert Michail Schischkin ĂŒber die kulturellen Kontraste zwischen der
Schweiz und Russland: Über das Berner Oberland und Tschetschenien, Touristen und
FlĂŒchtlinge, Literaten und Terroristen, Berge und DenkmĂ€ler, oder — wie es ein Rezensent
auf den Punkt brachte — ĂŒber Wandern und Leben, Tod und Literatur.

„Montreux-Missolunghi-Astapowo“ wurde 2002 von der Stadt ZĂŒrich mit einem Werkjahr
ausgezeichnet und erhielt 2005 in Frankreich den Preis fĂŒr das beste auslĂ€ndische Buch
des Jahres.

Ein Treppenwitz der Literaturgeschichte

In 14 Sprachen werden seine BĂŒcher mittlerweile ĂŒbersetzt und erscheinen neben
Russland unter anderem in Italien, Frankreich, Polen, Schweden, Finnland, Serbien,
Bulgarien, in den USA und sogar in China.

Ausgerechnet in den deutschsprachigen LĂ€ndern findet man die Romane des perfekt
Deutsch sprechenden Schriftstellers mit Wohnsitz ZĂŒrich aber nicht in den
Buchhandlungen: Die ersten Auflagen von „Die russische Schweiz“ und „Montreux-
Missolunghi-Astapowo“ sind seit Jahren vergriffen. Der Schweizer Verlag hat — ein
Treppenwitz der Literaturgeschichte — kein Geld fĂŒr eine Neuauflage der BĂŒcher.

Michail Schischkin greift mit „Das Venushaar“ nach den Sternen

Das soll Michail Schischkin mit der deutschen Übersetzung seines dritten Romans nicht
mehr passieren. „Das Venushaar“ erscheint im MĂ€rz 2011 im grossen deutschen DVA-
Verlag. Der biografische Hintergrund des Romans verweist aber klar in die Schweiz: FĂŒr die
hiesigen Migrationsbehörden ĂŒbersetzte Schischkin jahrelang die Aussagen von
FlĂŒchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion.

WĂ€hrend sich der reale Dolmetscher Michail Schischkin vom Inhalt der ĂŒbersetzten
GesprÀche abgrenzt, vermischen sich im Kopf des fiktiven Dolmetschers das fremde Leid,
seinen eigenen Erinnerungen und GefĂŒhle, aber auch Geschichten aus anderen Welten
und Zeiten. Aus der AktualitÀt heraus spinnt er ein filigranes Netz quer durch die
Geschichte.

Schischkin findet in „Das Venushaar“ den Weg von der altrömischen
Kriegsberichterstattung zur postsowjetischen Gewalt in Russland und Tschetschenien, vom
einem römischen Liebespaar zur russischen RomanzensÀngerin Isabella Jurjewa, von der
in Heimat ins Exil.

„Es ist ein komplexes, monumental angelegtes, philosophisch wie Ă€sthethisch nach den
Sternen greifendes Buch“, charakterisiert der Übersetzer Andreas Tretner den Roman, den
er ins Deutsche ĂŒbertragen hat.

DafĂŒr wurde „Das Venushaar“ 2005 mit dem angesehenen russischen Preis „Nationaler
Bestseller“ ausgezeichnet und 2006 mit dem wichtigsten Literaturpreis Russlands „Das
grosse Buch“. Mit dem russischen Booker-Preis aus dem Jahre 2000 ist Michail Schischkin
damit der einzige Schriftsteller, der alle drei grossen Literaturpreise Russlands erhalten hat.

„Das Venushaar“ ist Michail Schischkins grösster Erfolg

Komplex, monumental, philosophisch — das sind nicht gerade die Adjektive fĂŒr einen
Bestseller. Trotzdem nĂ€hert sich „Das Venushaar“ in Russland der 100‘000er-Auflage.
Hinter dem Erfolg steht der mÀchtige AST-Verlag, der 21 Prozent des russischen
Buchmarktes abdeckt und dem neben der Buchhandelskette Bukwa auch das „russische
Amazon“ Ozon.ru gehört.

Leser und Kritiker sind sich einig, dass "dieses schöne, kraftvolle und faszinierende Buch
ein Meilenstein sein wird, nicht nur in der Geschichte der russischen Literatur, sondern in
der Entwicklung des russischen Selbstbewusstseins", wie die russische "Nesawissimaja
Gaseta" schreibt.

Denn zu lange lebte die russische Literatur von der Vergangenheit. Aus der ganzen Welt
pilgerten Generationen von Leser nach Jasnaja Poljana, wo Tolstoi „Krieg und Frieden“
schrieb, als ob es Jerusalem wÀre. WÀhrenddessen verpasste die russische Literatur hinter
dem Eisernen Vorhang den Anschluss an die Weltliteratur.

Als erster russischer Schriftsteller einer neuen Generation erreicht Michail Schischkin mit
seiner unterhaltenden Weltliteratur nicht nur einen elitÀren Leserkreis, sondern breite
Leserschichten. Das angesehene „Times Literary Supplement“ sieht den Grund darin, dass
„Michail Schischkins Sprache wunderbar klar und prĂ€gnant ist. Ohne altertĂŒmlich zu
klingen, erreicht sie die QualitÀten eines Tolstoi und Dostojewski ebenso wie die Tradition
von Puschkin." Mehr Lob geht nicht.

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Datum: 18.03.2011 - 14:33 Uhr
Sprache: Deutsch
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Meldungsart: Interview
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Freigabedatum: 18.03.2011
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