(ots) - Vor sechs Wochen wurde ein unrasierter Mann in
knittrigem Anzug dem Richter und der Weltöffentlichkeit vorgeführt.
Der Vorwurf: Vergewaltigung. Das Pikante: Der Tatverdächtige war Chef
des Weltwährungsfonds und möglicher Kandidat der französischen Linken
für das Amt des Präsidenten. Die Verschwörungstheorien blühten.
Binnen Stunden erklärten weltweit Millionen von
Strauss-Kahn-Experten, warum es wie und wann wozu gekommen sei. Die
Erklärungen reichten von einer Verschwörung des französischen
Präsidenten Nikolas Sarkozy bis hin zur These vom notorischen
Lustmolch. Die globale Lust am Tratsch hatte konkrete Folgen: Das
wackelige Europa bekam noch einen Schubser mehr, Dominique
Strauss-Kahn (in Frankreich DSK genannt) verließ den IWF-Posten und
fiel, vorerst, als Kandidat in der Heimat aus. Der Vorwurf allein
bekam gewaltige machtpolitische Dimensionen auf nationaler,
europäischer und weltweiter Ebene. Nun ist alles wieder anders. Das
Ende des Hausarrests gerät zum Triumphzug für DSK. Offenbar waren die
Beweise doch nicht so eindeutig, zumindest ist es den Anwälten
gelungen, die Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen Opfers massiv zu
erschüttern. In Wirklichkeit ist seit Mitte Mai ziemlich wenig
passiert. Ein Urteil gibt es nicht, die Ermittlungen sind noch nicht
einmal abgeschlossen. Zwei globale Hysteriewellen allerdings haben
die Welt konkret verändert, und übrigens auch das Leben eines New
Yorker Zimmermädchens, womöglich irreparabel. Die Wucht, die ein
Vergewaltigungsvorwurf entwickelt, steht im krassen Gegensatz zur
Zahl der Verfahren, die mit einem eindeutigen Freispruch oder einer
eindeutigen Verurteilung enden. Was zwischen zwei Menschen in ihren
privatesten Momenten geschieht, das kann auch der findigste
Forensiker kaum zweifelsfrei ermitteln. Gut möglich, dass der Fall
DSK ähnlich endet wie die Causa Kachelmann. Dort folgte dem Vorwurf
ein langwieriges und in Teilen für alle Beteiligten peinliches
Verfahren. Die Erkenntnis: Nichts ist auszuschließen. Juristen wissen
aus vielen Vergewaltigungsverfahren, dass der lückenlose Nachweis
dieser Tat oft unmöglich ist. Ob Experten nun die Entstehung von
Hämatomen untersuchen oder nach DNA in Körperflüssigkeiten fahnden -
am Ende fehlt die Beweiskraft. Was sicher bleibt, ist maximaler
Schaden - für den Verdächtigten, für das eventuelle Opfer, für das
Ansehen der Justiz. Allenfalls Anwälte profitieren, die die
öffentliche Show geschickt zur Eigenwerbung nutzen. Aus den Mustern,
die bei Kachelmann wie DSK bislang ähnlich ablaufen, ließe sich
immerhin etwas lernen. Gerade bei Vergewaltigungsvorwürfen hat der
Schutz von Klägern und Beklagten Vorrang vor dem öffentlichen
Interesse. Zumal unstrittig sein dürfte, dass eine überbordende
öffentliche Teilnahme das Verhalten aller Akteure oft massiv
beeinflusst. Statt dramatischer Inszenierungen ist die bisweilen
etwas vergessene Tugend der Diskretion gefragt. Zu überlegen, wie und
in welchen Fällen dieser Persönlichkeitsschutz ganz praktisch in die
Rechtsordnung einzubauen ist, das wäre eine edle Aufgabe für die
Justiz.
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