(firmenpresse) - Distanzierte Sensibilität würde ich die Haltung nennen, in der Christian Bedor sich seinem Protagonisten Thomas Lehr nähert.
Eine deutlich männliche Art der Annäherung, die Emotionen eliminiert und stattdessen Äußeres, Umstände und Notwendigkeiten fokussiert.
Die emotionale Verletzung des kleinen Thomas, dessen Leben von der Geburt bis zum etwa 14jährigen Messdiener wiedergegeben wird, geht umso lauter aus den geschilderten Lebensumständen hervor, je unbedingter sie verschwiegen wird. Ein Kunststück, das Bedor hier fertig bringt. Er schafft es, die Sprachlosigkeit selbst sprechen zu lassen, in Episoden wie bei dem Sturz mit einem Tretroller oder einem Speiseeisgeschenk. Diese Eigenart seines Erzählstils hat mich am meisten beeindruckt und macht meiner Meinung nach den besonderen Wert von „Beichtgang“ aus. Wie viele Gedanken, Befürchtungen, Berechnungsversuche, sachliche Erwägungen und Zukunftsprognosen sich während einer kurzen Fahrradfahrt im Bewusstsein eines einsamen vernachlässigten kleinen Jungen abspielen können!
Thomas ist Lehrersohn, unverkennbar, auf Pflichterfüllung und Standesbewusstsein so sehr getrimmt, dass schon das eigene Wollen und Wünschen im Ansatz verkümmert. Katholische Pfarrer und seine Lehrer(-Eltern) prägen seine Welt. Verbote und Gebote, die er ängstlich zu erfüllen sucht.
Sehr nahe kommt der Autor seinem Protagonisten, dringt in dessen abgeschottete Geisteswelt fast völlig ein, ohne kaum je ein Gefühl zu offenbaren, abgesehen von der lebensbestimmenden Angst vor Strafe, Blamage und davor, das Falsche zu tun. Thomas fühlt sich kaum je verletzt, dafür beschämt und unzulänglich. Im Laufe seiner Entwicklung steigert sich seine Befindlichkeit zu einer ohnmächtigen, beinahe-wütenden Verwirrung angesichts elterlicher Erziehungsmaßnahmen, die er nicht versteht und als ungerechtfertigt empfindet. Irgendetwas stimmt nicht. Der Vater ist alkoholkrank und hat ein außereheliches Verhältnis – ausgerechnet mit Thomas’ Lehrerin. Doch woher soll er schließlich wissen, ob ihm Unrecht geschieht, ohne jede Referenz, wie die Dinge eigentlich laufen sollten? Keine Wahl bleibt ihm, als sich schicksalsergeben zu fügen, Antworten auf Thomas’ unausgesprochene Fragen bleiben aus.
Erst in einem Brief an seine Eltern als Erwachsener gelingt es Thomas, auszudrücken, worunter er zeit seiner Kindheit gelitten hat und auch dieser Ausbruch fällt eigentümlich beherrscht und bedacht aus.
Ein überraschend leicht fließendes und lesenswertes Buch, das in seinem lauten Verschweigen die ganze Hilflosigkeit eines vernachlässigten Jungen ausdrückt, insbesondere die schmerzende Ohnmacht, die darin liegt, dass Dinge totgeschwiegen werden, nicht zur Sprache kommen können.
Darüber hinaus ein Buch von besonderer Relevanz für die Generationen der 50er, 60er und 70er Jahre, die sich atmosphärisch und emotional darin wiederfinden werden.
Sina Burger
[Infos: muell-zeit-lose.de]
Christian Bedor ist Buch-Autor, Postkarten-Künstler und Müllzeit-Los-Croupier. Bekannt wurde er durch seine Entertainment-Tombola Müll-Zeit-Lose. Unzählige Menschen zogen in den vergangenen Jahren an seiner roten Bauchladenmülltonne Lose und gewannen seine Kunstprodukte. Zudem schreibt Bedor Kurzgeschichten (unter anderem zu hören: Frankfurter Literatur-Telefon, Februar 2006). Auf diversen Video-Portalen im Internet lassen sich ferner seine satirischen Klipse Personalberatung Team Verreckt – Arbeitskabarett finden. Zudem strahlt das Medienprojektzentrum Offener Kanal in Offenbach/Main seit April 2004 bis heuer jeden Monat eine neue Folge dieser Serie aus.
Wer sich für mehr Infos interessiert, findet diese auf Christian Bedors offizieller Web-Seite: www.muell-zeit-lose.de
Von Christian Bedor sind außerdem erschienen:
Kreatives Marketing für Künstler
Bewegungsversuche – Erzählungen von Christian Bedor und Michael Liebusch
DVD-Filme (verschiedene Folgen): Personalberatung Team Verreckt
Film über Christian Bedor:
Frankfurter Künstler-Porträt