(ots) - Wenn in Zeiten von Anarchie und wirtschaftlichem
Niedergang die Unzufriedenheit wächst, wundert das niemanden. Deshalb
ist erstaunlich, was jetzt in Russland geschieht: Die
Rahmenbedingungen sind halbwegs stabil, die Staatsfinanzen relativ
solide, der größte staatliche Devisenbringer Gazprom erzielt mit
seinen hohen Erdgaspreisen (im Ausland) Rekorderlöse. Auf dieser
Grundlage könnte eine Erfolgsgeschichte beginnen. Wenn ausgerechnet
in dieser Lage, nach den Parlamentswahlen, eine Proteststimmung
entsteht, muss in diesem Staat wirklich etwas nicht in Ordnung sein.
Und Besserung ist nicht in Sicht. Offenbar fürchten die städtischen
Eliten eine bleierne Zeit der Stagnation, wenn heute schon absehbar
ist, wer das Land bis 2024 regiert. Die Machthaber haben unerwartet
scharf auf die Demonstrationen reagiert: mit der Mobilisierung von
Gegendemonstranten und von militarisierten Einheiten des
Innenministeriums. All diese Elemente haben wir schon einmal gesehen
- in der Ukraine im Herbst 2004. Doch dort war das Regime marode, die
Kontrollmechanismen ausgeleiert. Damals erwuchs aus dem Protest gegen
Wahlfälschungen die friedliche, die Orangene Revolution. Sie brachte
eine Wahlwiederholung und den Machtwechsel. Das ist in Russland
unwahrscheinlich, auch wenn sich bis Donnerstagabend fast 30.000
Menschen auf Facebook zu einer Protestdemonstration in Moskau am
Sonnabend angemeldet haben. Auch ihnen gelten die Festnahmen und die
präventiv gezeigte Härte der vergangenen Tage. Machen wir uns nichts
vor: Regierungschef Putin wäre der Letzte, der Michail Gorbatschows
Forderung nach einer Wahlwiederholung beachtete. Auch Präsident
Medwedjews Verständnis für die Proteste wird an der Generallinie
vermutlich nichts ändern. Wladimir Putin, dessen Denken und Methoden
von vielen Jahren des Dienstes im KGB und an der Spitze des
russischen Nachfolgedienstes FSB geprägt wurden, macht jetzt böse
Mächte im Westen, allen voran die USA, als Drahtzieher für die
Proteste verantwortlich. Das entspricht seinen seit Langem geäußerten
Überzeugungen. Schon vor fünf Jahren hatte das neue russische
Anti-Terrorismus-Gesetz eine so weite Definition von Terrorismus
formuliert, dass sich selbst die Demonstranten dieser Woche in seinen
Fangstricken wiederfinden könnten. Es gibt seit Jahren Schikanen
gegen Nichtregierungsorganisationen. Die Mittlerorganisation British
Council wurde durch Schikanen dazu gebracht, zwei Büros in Russland
zu schließen; mit deutschen Institutionen ist Moskau bisher
vorsichtiger gewesen - vielleicht weil das Erdgas- und das politische
Geschäft mit Berlin so gut läuft. Die Botschaft dieser Tage ist klar:
Politische Unzufriedenheit in Russland kann gar nicht anders als vom
Ausland inspiriert sein. Putins Folgerung: Diese Krakeeler gehören
weggesperrt. Es ist das alte, tragische Dilemma dieses Landes -
eigentlich sollte über das Schicksal Russlands an der Wahlurne
entschieden werden. Doch Putin will, dass es im Hinterzimmer
entschieden wird. Weil das nie lange funktioniert, bleibt nur der
dritte Weg: Russlands Zukunft entscheidet sich auf der Straße.
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