(ots) - von Ulrich Krökel
Das Berufungsverfahren gegen Julia Timoschenko ist eine ebensolche
Farce, wie es der vorangegangene Prozess war. Ob der Schuldspruch
aufgehoben wird oder nicht: Fest steht schon jetzt, dass die
ukrainische Oppositionsführerin nicht so bald auf freien Fuß kommt.
Der Inlandsgeheimdienst und die Generalstaatsanwaltschaft haben
bereits einen "Reserve-Haftbefehl" in einem anderen Verfahren
erwirkt. Sollte also die Berufung in Fall A wie Amtsmissbrauch Erfolg
haben, greift Plan B wie Betrug. Ein Dutzend weiterer
Ermittlungsansätze haben die Staatsanwälte in der Hinterhand. Das
wiederum zeugt weniger von der kriminellen Energie der Angeklagten
(die bei Timoschenko durchaus einmal vorhanden war), sondern von der
vollständigen Verkümmerung des Rechtsstaats in der Ukraine - wenn es
einen solchen denn je gab. Timoschenkos Intimfeind, Präsident Viktor
Janukowitsch, lenkt die Justiz im Land. Mit Gewaltenteilung hat dies
nicht das Geringste zu tun. Schon deshalb lässt sich im Falle der
Ukraine nicht von einer Demokratie sprechen. Und es nicht abzusehen,
dass sich daran allzu bald etwas ändern könnte. Im Gegenteil: Die
Menschen im Land wenden sich zunehmend von den Parteien und der
Politik ab. Sie suchen im Privatgeschäft auf die gleiche Weise ihren
eigenen Vorteil, wie ihnen dies Parlamentarier und Präsidialbeamte
vorleben. Im neuesten Korruptionsindex von Transparency International
ist die Ukraine um weitere 18 Plätze auf Rang 152 unter 183 Nationen
abgesackt. Die Korruption im Land grassiert wie in keinem zweiten
Staat Europas. Die Ukraine ist auf dem direkten Weg in die
Katastrophe. Unter Experten macht bereits das Wort vom "failed state"
die Runde, von einem Land, in dem der Staat seine Grundaufgaben nicht
mehr erfüllen kann. Die Hungerproteste von Alten, Kranken und
Tschernobyl-Veteranen, der Zerfall des Rechtsstaats und der
Sozialsysteme, die epidemische Korruption bei der Polizei und in
Unternehmen, die wachsende Macht der organisierten Kriminalität und
der noch immer drohende Staatsbankrott machen diese Einschätzung
plausibel. Licht am Ende des Tunnels ist nicht in Sicht. Die
Europäische Union ist seit Langem bemüht, Zeichen der Hoffnung zu
setzen. Brüssel lockt mit einem Assoziierungsabkommen, das freien
Handel und freie Reisen vorsieht. Im Umkehrschluss müsste sich die
Ukraine dazu verpflichten, die europäischen Rechtsnormen
anzuerkennen. Wenn nicht alles trügt, wird die EU einen solchen
Vertrag in der kommenden Woche bei einem Gipfeltreffen in Kiew sogar
auf Arbeitsebene unterschreiben. Viel zu bedeuten hat das allerdings
nicht, denn bevor das Abkommen in Kraft treten kann, müssen die
Parlamente aller 27 EU-Staaten grünes Licht geben. Das ist in der
gegenwärtigen Situation ausgeschlossen - und dies nicht allein wegen
Julia Timoschenko. Der gesamte autoritäre Politikstil von Viktor
Janukowitsch mit seinen Anleihen im Mafia-Milieu macht dies
unmöglich. Das ist auch für Europa eine Katastrophe, denn
prosperierende Nachbarstaaten sind von existenzieller Bedeutung für
die EU. Das gilt nicht nur für Nordafrika, sondern auch für
Osteuropa. Sollte sich Kiew vertraglich an den Westen binden und sich
den in Brüssel geschriebenen Regeln unterwerfen, wäre dies ein
enormer Fortschritt. Die Entscheidung darüber, ob sie dies wollen,
können aber nur die Ukrainer selbst treffen. In keinem Fall darf die
EU ihre eigenen Grundwerte von Freiheit, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit auf dem Altar der Geopolitik opfern. Immer wieder
ist das Argument zu hören, die EU müsse die Ukraine vor einer
feindlichen Übernahme durch Russland schützen. Das ist Unfug. Wenn
überhaupt, dann werden Janukowitsch und die Seinen die enge Anbindung
an Moskau aus freien Stücken suchen. Im Zweifelsfall soll man
Reisende nicht aufhalten. Wahrscheinlich ist es aber nicht, dass es
so kommt. Dieses Szenario erinnert eher an den alten Witz von dem
Räuber, der sich eine Pistole an den Kopf hält und schreit: "Geld
her, oder ich erschieße mich!" Es wäre der politische Selbstmord des
Viktor Janukowitsch.
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