Zum 120. Geburtstag des Romanschriftstellers Raymond Chandler
(firmenpresse) - Bonn/Zürich - „Wie der Stil, so der Mensch, aber merkwürdigerweise deckt Chandlers Stil sich kaum mit seinem Charakter oder seinem Leben“, bemerkte die Thrillerautorin Patricia Highsmith über den Mann, der das Drehbuch zu „Zwei Fremde im Zug“ nach einem Roman der Autorin verfasst hatte. Highsmith lobte seinen Stil: „Chandler konnte in sechs Worte stets eine Menge hineinpacken.“ Aber sie verschwieg auch nicht seine persönliche Zerrissenheit zwischen England und Amerika, seine Trinkerei und sein ziemlich unglückliches Ende.
Von Philip Marlowe, Chandlers berühmtesten Romanhelden, haben wir ein recht genaues Bild. Im Film wurde der hart gesottene Privatdetektiv von Humphrey Bogart, James Garner, Robert Mitchum und Elliott Gould verkörpert. Wir alle wären gern ein wenig wie Marlowe, was wohl auch für seinen etwas zarter besaiteten Schöpfer gilt. In dem Roman „Der lange Abschied“ aus dem Jahr 1954 charakterisiert sich der coole Schnüffler selber: „Ich habe eine Lizenz für private Ermittlungen und betreibe das Geschäft schon ziemlich lange. Ich bin ein Einzelgänger, unverheiratet, mittleren Alters und nicht reich. Ich habe schon mehr als einmal gesessen, und ich übernehme keine Scheidungsfälle. Ich schwärme für Alkohol, Frauen, Schach und noch ein paar andere Sachen. Die Bullen können mich nicht gut leiden, aber ich kenne auch einige, mit denen ich ganz gut auskomme. Ich stamme hier aus der Gegend, in Santa Rosa geboren, beide Eltern tot, keine Geschwister, und sollte es mal so weit kommen, dass ich in einer dunklen Gasse um die Ecke gebracht werde, wie es in meinem Beruf ja jedem passieren kann und vielen Leuten in jedem Beruf oder Nicht-Beruf tagtäglich passiert, dann wird kein Mensch das Gefühl haben, dass seinem beziehungsweise ihrem Leben der Hauptzacken aus der Krone gebrochen wäre.“
Raymond Thornton Chandler wurde am 23. Juli 1888 in Chicago geboren. Nach der Scheidung der Eltern wurde er von der Mutter nach London gebracht. Erst 1912 kehrte der lebenslang anglophile Chandler in die Vereinigten Staaten zurück, diente im Ersten Weltkrieg, heiratete eine wesentlich ältere Frau und brachte es schließlich zum Direktor einer Anzahl unabhängiger Ölgesellschaften, verlor seine Stellung aber während der Depression. Seine erste Geschichte „Erpresse schießen nicht“ erschien 1933 im Pulp Magazin „Black Mask“. Chandler, der immer mehr sein wollte als „bloß“ ein Kriminalschriftsteller, verstarb am 26. März 1959 in La Jolla, Kalifornien. Zwischen 1939 und seinem Todesjahr erschienen großartige Romane wie „Der tiefe Schlaf“, „Lebwohl, mein Liebling“, „Der lange Abschied“ oder „Playback“.
Besser als Dashiell Hammett
Wer auf Krimis à la Agatha Christie steht, sollte Chandler lieber im Regal stehen lassen. Dessen Vorbild war Dashiell Hammett, Schöpfer des „Malteser Falken“, des „Dünnen Mannes“ und der „Roten Ernte“. „Hammett zog den Mord aus der venezianischen Vase und ließ ihn auf die Straße fallen“, sagte Chandler über den Mann, den er künftig übertreffen wollte: „Ich dachte, ich könnte vielleicht ein bisschen weitergehen, ein bisschen humaner sein, könnte mich ein bisschen mehr für Menschen interessieren als für Mord“. Chandler war ein Stilist, der Krimis als literarische Werke ansah und ihnen dieselben Maßstäbe zugrunde legte wie jedem anderen Roman.
„Was Chandlers Arbeiten die besondere Würze gibt ist die Kombination von britisch-englischem Standardsatzbau und vorwiegend amerikanischem Wortschatz. Sein Stil wirkt nie langweilig, weil Chandler etwas von Kadenz und Tempo versteht. Er wirkt nie trocken, weil die Sprache so frisch ist. Dieser Stil ist das natürliche Produkt von Chandlers persönlicher Geschichte. In seinen Romanen hat Chandler ihn weiterentwickelt und verfeinert, aber die Basis dafür waren die pulp-stories“, schreibt sein Biographe Frank MacShane. Der humanistisch gebildete Chandler sah in so hochkarätigen Dichtern wie Henry James, Joseph Conrad, Charles Dickens oder Gustave Flaubert seine literarischen Vorbilder. Und so wollte er in seinen wenigen Kriminalromanen Los Angeles in ähnlicher Weise festhalten wie Dickens und Balzac das London und Paris für künftige Generationen festhielten.
Was Chandler von Hammett unterscheidet, ist vor allem sein Humor, sein scheinbar so leichter Ton und die romantische Atmosphäre. Von Hammetts Helden Sam Spade können wir uns kein wirkliches Bild machen, von Marlowe, diesem romantischen Ritter im Kalifornien der 30er, 40er und 50er Jahre, schon. Aufgrund seiner Fähigkeiten könnte er viel mehr erreichen als ein schäbiges Büro und ständig wechselnde Buden. Und mit den Frauen, die dem gut aussehende Marlowe (Chandler schwebte ein Typ wie Cary Grant vor) eigentlich sehr ergeben sind, klappt es eigentlich auch nie so recht oder zumindest nie langfristig. Denn sein Auftrag ist klar: Auch wenn er immer wieder scheitert, er will die Welt von ein bisschen Schmutz befreien, auch wenn er sich dabei immer wieder eine blutige Nase, eine Menge Undank und keine hohen Honorare einhandelt. Privatleben hat Marlowe eigentlich nicht. Er kocht gut Kaffee, kann sich ein Ei in die Pfanne schlagen, spielt Schach gegen sich selbst und hat die Pulle mit Feuerwasser immer griffbereit.
Und wenn ihm ein Gangster hochnäsig ins Gesicht schleudert, dass er ein Haus in Florida habe und eine Hochseeyacht mit fünf Mann Besatzung, einen Bentley, zwei Cadillacs, einen Chrysler-Kombi und einen MG für seinen Jungen und Marlowe entgegnet, er habe nur ein Haus, kein Weibsbild und ein paar tausend in Pfandbriefen, dann halten wir ihn trotzdem für den Größten. Wir hätten uns die Unverschämtheiten dieses arroganten Schnösels vielleicht ruhig angehört oder ihm entgegnet, dass er uns mal den Buckel runter rutschen könne. Marlowe hingegen rammt ihm die Faust so stark in den Bauch, dass der schleimige Fiesling wimmernd zusammen klappt und mit den Händen konvulsivisch hin und her zuckt. Ja, so wären wir auch gern. Formal vielleicht nicht so reich und angesehen wie die Mächtigen, aber wenn es drauf ankommt, mit einer Menge mehr Mumm und Muskeln ausgestattet.
Marlowe als die Personifikation einer Haltung
Einem so klugen Mann wie Chandler war natürlich bewusst, dass ein so intelligenter und sensibler Mann wie Marlowe im „echten Leben“ niemals als Privatdetektiv arbeiten würde. Für ihn war er lediglich die „Personifikation einer Haltung, die Übertreibung einer Möglichkeit“. Ein melancholischer Held, ein einsamer Kämpfer: „Ich sehe ihn eigentlich immer auf einer einsamen Straße, in einsamen Räumen, ratlos, doch nie ganz geschlagen“. In späteren Jahren, als Chandler selbst von Einsamkeit geplagt wurde und seine Frau Cissy immer stärker kränkelte, hat er die Männlichkeit seines Protagonisten und seine Beliebtheit bei den Damen jedoch manchmal etwas übertrieben. Vielleicht war dies eine Art Kompensation.
Chandlers Kosmos, das Los Angeles seiner Zeit, ist hart, korrupt, es wimmelt von zwielichtigen Verbrechern und genauso zwielichtigen „Bullen“. Dass der Leser sich diese Welt vorstellen kann, liegt vor allem an der bildkräftigen Sprache des Autors. So charakterisiert er in „Lebwohl, mein Liebling“, den Ex-Knacki Moose Malloy mit folgenden Worten: „Es war ein großer Mann, nur knapp zwei Meter groß und nicht ganz so breit wie ein Bierwagen.“ Malloy sieht „so unauffällig aus wie eine Tarantel auf einem Quarkkuchen“. In seinen Geschichten und Romanen gibt es Hunderte solcher humorvoller, plastischer Beschreibungen. Es sind Bilder, die man in dieser Form vorher noch nicht gelesen hat.
Viele der heutigen Krimis – ob in Buchform oder im Fernsehen – nerven uns mit ihren Nebengeschichten und sozialen Bezügen. Es wimmelt nur so von zerquälten Ermittlern mit zerrütteten Ehen und missratenen Kindern. Ziemlich verkrampft werden alle möglichen „heißen“ Eisen wie Rassismus, Kindesmissbrauch, Terrorismus, Umweltkriminalität oder was auch immer angepackt. Der gute alte Mord bleibt dabei häufig auf der Strecke. Und weil jeder Ermittler so einen umfangreichen Seelenmüll mit sich herumschleppt, sind die meisten Schmöker auch über 500 Seiten stark. Chandler hat sich meist mit der Hälfte begnügt und trotzdem Kunstwerke, keine Massenware geschaffen.
Dabei hat er zu keinem Zeitpunkt – obwohl er nie „nur“ als Krimiautor, sondern als Romancier gelten wollte – die blödsinnige Unterteilung in E und U mitgemacht. Chandler war der Meinung, dass alle Literatur im Grunde Unterhaltungsliteratur ist. Der Stilist Chandler hat sich immer abgesetzt von Thrillerautoren wie James M. Cain („Wenn der Postmann zweimal klingelt“), die seinen ästhetischen Vorstellungen zuwiderhandelten: „Hammett ist schon gut. Allen Respekt vor ihm. Es gibt eine Menge Sachen, die er nicht konnte, aber was er machte, das machte er glänzend. Dagegen James Cain – puh! Alles, was er anfasst, riecht nach Ziegenbock. Er vereinigt als Autor alles auf sich, was ich verabscheue, ein faux naif, ein Proust im schmierigen Overall, ein schmutziger kleiner Junge mit einem Stück Kreide und einem Bretterzaun, und keiner sieht hin. Solche Leute sind der Abschaum der Literatur, nicht weil sie über schmutzige Dinge schreiben, sondern weil sie es auf eine schmutzige Art tun. Nichts hart und sauber und kalt und gut durchgelüftet. Ein Puff mit einem Mief von billigem Parfüm im Salon vorn und einem Eimer Spülwasser am Hinterausgang. Klingt das bei mir, um Gottes willen, etwa ähnlich? Hemingway mit seinem ewigen Schlafsack ödet einen auf die Dauer auch verdammt noch mal an, aber Hemingway sieht wenigstens alles, nicht nur die Fliegen am Müllkübel.“
Während von Cain heute kein Buch mehr in deutscher Sprache erhältlich ist (höchstens antiquarisch), stellt sich dieses Problem bei Chandler zum Glück nicht. Der grandiose Diogenes-Verlag macht uns seine Stories und Romane zugänglich. Leider ist die Biographie „Raymond Chandler“ von Frank MacShane (ebenfalls bei Diogenes erschienen) nur noch antiquarisch erhältlich. Lesefaule und Leute, die viel mit dem Auto unterwegs sind, sollten sich die große Hörspieledition „Raymond Chandler. Gefahr ist ihr Geschäft“ (Sprecher sind u. a. Hans Peter Hallwachs, Hilmar Thate, Ulrich Pleitgen, Christian Brückner und Arnold Marquis) zulegen. Auch seine Briefe aus den Jahren 1937 bis 1959 mit ihren Kommentaren über Hollywood, Schriftstellerkollegen oder die Kunst des Schreibens bereiten ein großes Maß an Lesevergnügen, obwohl die Übersetzung von Hans Wollschläger unsagbar schlecht ist.
Wer sich dem Meister langsam und in Stücken nähern möchte, ist bei der Kurzgeschichtensammlung „Mord im Regen“ bestens bedient. Denn viele seiner früheren Stories, die er für die so genannten Pulp Magazine geschrieben hat, hat er später für seine Romane ausgeschlachtet. So etwas nennt man ökonomisch. Nicht ohne Grund hatte Chandler seine Berufskarriere als Manager in der Ölindustrie begonnen. Bedauerlich, dass ihm für die „simple Kunst des Mordes“ dann letztlich nur rund 20 Jahre übrig blieben.
Literaturhinweis:
Frank MacShane: Raymond Chandler. Eine Biographie. Diogenes Verlag: Zürich 1984.