(ots) - Wladimir Putin verhält sich zurzeit wie der
Kapitän der "Titanic". Sein Eisberg sind die protestierenden Menschen
in Moskau und in anderen russischen Städten, die gerechte Wahlen und
das Ende der Alleinherrschaft fordern. Doch sie sind nur die Spitze
des Eisbergs, der die Veränderungen der russischen Gesellschaft in
den vergangenen Monaten darstellt. Und Putin merkt nicht, dass dieser
Eisberg gerade ein tiefes Loch in seinen Bug reißt. Bei den Protesten
vom Dezember 2011 und Februar 2012 waren immer mehr Menschen - trotz
bitterer Kälte, Festnahmen und Drohungen vom Arbeitgeber - bereit,
sich für ein neues Russland einzusetzen. Dieses Phänomen ist neu. Der
Grund: 33 Prozent der Russen trauen laut einer Umfrage der Regierung
nicht zu, das Land zum Positiven verändern zu können. Während in den
vergangenen Jahren die Menschen vor allem mit sich selbst und ihrem
Auskommen beschäftigt waren, sehen sie nun, dass ohne politische
Veränderungen auch ihr Leben nicht mehr vorankommen kann. Sie müssen
sich engagieren. Vor allem die wirtschaftliche Elite, die viele Jahre
von der Regierung zum Beispiel mit Steuergeschenken verwöhnt wurde,
geht auf die Straße. Denn eins haben die Russen verstanden: Von
selbst wird Putin nicht verschwinden. Das "System" hinter Putin wird
ihn auch niemals gehen lassen. Beamte im Kreml, aber auch Richter und
Polizisten stehen im Ruf, Dreck am Stecken zu haben, einige werden
sogar wegen Mordverdachts im Ausland gesucht. Solange Putin im Kreml
sitzt, sind diese Gestalten geschützt. Deshalb müssen die Russen ihr
Schicksal selbst in die Hand nehmen - und mit ihren Mitteln kämpfen:
Weiße Bänder als Protestzeichen schmücken die alltägliche Kleidung.
Ein Autokorso mit 3000 Fahrzeugen legt die Innenstadt von Moskau
lahm. Das Lied "Niemand außer uns" wird bei YouTube zum Hit. Tenor:
"In einem Land, in dem betrogen wird, wollen wir nicht leben." Solche
Aktionen beleben auch die Wahlen: Während im Juli 35 Prozent der
Russen nicht wussten, ob sie wählen gehen und wen sie wählen sollen,
werden es mit jedem Monat weniger. Das Internet hat Russland befreit.
Dort finden Menschen nun neue Idole, denen sie gerne folgen - vorerst
virtuell bei Twitter, später auch real, wenn sie für den
Präsidentenposten kandidieren. Natürlich bleiben Senioren und
Menschen in Provinzen von dieser Entwicklung unberührt, doch
irgendwann wird die Erschütterung des Eisbergs auch diese Menschen
erreichen. Schon jetzt spüren sie, dass sich etwas verändert. Auf
einmal sehen sie oppositionelle Politiker wie den ehemaligen
Schachweltmeister Garri Kasparow im staatlich kontrollierten
Fernsehen. Zwar nur 20 bis 30 Sekunden lang, und die Interviews
werden stark zensiert - aber immerhin. Neue Gesetze wurden in die
Wege geleitet, die eine Aufstellung zum Präsidentschaftskandidaten
erheblich erleichtern sollen. Die Gouverneure sollen wieder vom Volk
gewählt und nicht vom Präsidenten vorgesetzt werden. Während Putin
mit Wahlgeschenken wie Rentenerhöhung und Gratis-Flügen für
Fußball-Fans auf Stimmfang geht, baut die Internet-Gemeinde bereits
an konkreten Plänen für die Machtübernahme in den nächsten Jahren.
Und Putin tritt weiter selbstsicher auf, benebelt von der Macht - die
Internetgemeinde verachtet er geradezu als seinen Gegner. Doch es
bleiben noch viele Baustellen - unter anderem die korrupte Justiz. Da
hilft auch kein Flicken mehr. Auch das Leck im Schiff ist schon groß,
der Eisberg verrichtet seine Arbeit und bohrt sich immer tiefer in
den mächtigen Bug.
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