(ots) - Der Deutsche Ethikrat stellt am heutigen Donnerstag
in Berlin seine im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete
Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen vor. Er ist der
Auffassung, dass intersexuelle Menschen als Teil gesellschaftlicher
Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen.
Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklungen und
Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt werden.
Im Mittelpunkt der Diskussionen stand immer wieder die Frage, ob
chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsorganen von Menschen mit
Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung (DSD - differences of
sex development) und insbesondere bei betroffenen Kleinkindern
überhaupt zulässig sein sollten.
Irreversible medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung bei
Menschen mit uneindeutigem Geschlecht stellen einen Eingriff in das
Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen
und sexuellen Identität und das Recht auf eine offene Zukunft und oft
auch in das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit dar. Die Entscheidung
darüber ist höchstpersönlich. Daher empfiehlt der Ethikrat, dass sie
grundsätzlich von den Betroffenen selbst getroffen werden sollte. Bei
noch nicht selbst entscheidungsfähigen Betroffenen sollten solche
Maßnahmen nur erfolgen, wenn dies nach umfassender Abwägung aller
Vor- und Nachteile des Eingriffs und seiner langfristigen Folgen
aufgrund unabweisbarer Gründe des Kindeswohls erforderlich ist. Dies
ist jedenfalls der Fall, wenn die Maßnahme der Abwendung einer
konkreten schwerwiegenden Gefahr für die physische Gesundheit oder
das Leben der Betroffenen dient.
Wenn, wie im Falle des Adrenogenitalen Syndroms (AGS), das
Geschlecht festgestellt werden kann, sollte bei noch nicht selbst
entscheidungsfähigen Betroffenen die Entscheidung über die operative
Angleichung der Genitalien an das Geschlecht nur nach umfassender
Abwägung der medizinischen, psychologischen und psychosozialen Vor-
und Nachteile einer frühen Operation erfolgen. Maßgeblich ist auch
hier das Kindeswohl. Im Zweifel sollte auch bei solchen
geschlechtsvereindeutigenden Eingriffen die Entscheidungsfähigkeit
der Betroffenen abgewartet werden.
Die medizinische Diagnostik und Behandlung von DSD-Betroffenen
sollte nur in einem speziell dafür qualifizierten interdisziplinär
zusammengesetzten Kompetenzzentrum von Ärzten und Experten aus allen
beteiligten Disziplinen vorgenommen werden. Die fortlaufende
medizinische Betreuung soll in unabhängigen qualifizierten
Betreuungsstellen bei gleichzeitiger Beratung durch andere Betroffene
sowie Selbsthilfeeinrichtungen fortgeführt werden. Alle
Behandlungsmaßnahmen sollten umfassend dokumentiert werden und den
Betroffenen für mindestens 40 Jahre zugänglich sein. Die Regelungen
zur Verjährung bei Straftaten an einem Kind sollten auf solche
Straftaten erweitert werden, durch die die Fortpflanzungsfähigkeit
und/oder die sexuelle Empfindungsfähigkeit irreversibel
beeinträchtigt wurde.
Für Betroffene, die Schmerzen, persönliches Leid, Erschwernisse
und dauerhafte Einschränkungen ihrer Lebensqualität erlitten haben,
weil sie Behandlungen unterzogen wurden, die nach heutigen
Erkenntnissen nicht (mehr) dem Stand der medizinischen Wissenschaft
und Technik zugerechnet werden können und auf ausgrenzenden
gesellschaftlichen Vorstellungen von geschlechtlicher Normalität
beruhten, sollte ein Fonds errichtet werden, der ihnen Anerkennung
und Hilfe zukommen lässt. Darüber hinaus sollten Selbsthilfegruppen
und Betroffenenverbände öffentlich finanziell gefördert werden.
Der Ethikrat ist zudem der Auffassung, dass ein nicht zu
rechtfertigender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und das Recht
auf Gleichbehandlung vorliegt, wenn Menschen, die sich aufgrund ihrer
körperlichen Konstitution weder dem Geschlecht "weiblich" noch
"männlich" zuordnen können, rechtlich gezwungen werden, sich im
Personenstandsregister einer dieser Kategorien zuzuordnen. Es sollte
daher geregelt werden, dass von diesen Personen neben der Eintragung
als "weiblich" oder "männlich" auch "anderes" gewählt werden kann
bzw. dass kein Eintrag erfolgen muss, bis die betroffene Person sich
selbst entschieden hat. Um Personen, die im Personenstandsregister
als "anderes" eingetragen sind, die Möglichkeit einer Beziehung zu
eröffnen, die staatlich anerkannt und rechtlich geregelt von
Verantwortung und Verlässlichkeit geprägt ist, schlägt der Ethikrat
mehrheitlich vor, Menschen mit dem Geschlechtseintrag "anderes" die
eingetragene Lebenspartnerschaft zu ermöglichen. Ein Teil des
Ethikrates plädiert darüber hinaus dafür, ihnen auch die Möglichkeit
der Eheschließung zu eröffnen. Als Grundlage für künftige
Entscheidungen des Gesetzgebers sollte geprüft werden, ob eine
Eintragung des Geschlechts im Personenstandsregister überhaupt noch
notwendig ist.
Der Begriff Intersexualität bezieht sich auf Menschen, die sich
aufgrund körperlicher Besonderheiten nicht eindeutig als "männlich"
oder "weiblich" einordnen lassen. Er wird in der Öffentlichkeit für
unterschiedliche Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung
verwendet. Teilweise werden auch Menschen darunter gefasst, die sich
selbst nicht als intersexuell verstehen und sich sogar gegen diesen
Begriff verwahren. Der Ethikrat verwendet daher in seiner
Stellungnahme DSD (differences of sex development) als medizinischen
Oberbegriff für alle Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung.
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Formen von DSD bringen
jeweils besondere Probleme und Bedürfnisse der Betroffenen mit sich.
Sie erfordern eine differenzierte ethische und rechtliche Bewertung.
In seiner Stellungnahme differenziert der Ethikrat zudem zwischen
"geschlechtsvereindeutigenden" und "geschlechtszuordnenden"
Eingriffen, die unterschiedlich zu bewerten sind. Mit einem
vereindeutigenden Eingriff ist die Korrektur einer
biochemisch-hormonellen Fehlfunktion, die potenziell einen
gesundheitsschädigenden Charakter hat, gemeint. Gegebenenfalls kann
auch ein operativer Eingriff zur Angleichung des äußeren
Erscheinungsbildes an das genetisch und durch die inneren
Geschlechtsorgane feststehende Geschlecht gemeint sein. Demgegenüber
greifen geschlechtszuordnende Interventionen sehr viel weiter in die
Persönlichkeit des Kindes ein, da bei vorliegender Unbestimmbarkeit
von Eltern und Ärzten entschieden wird, zu welchem Geschlecht die
Zuordnung erfolgen soll.
Die Stellungnahme ist abrufbar unter www.ethikrat.org.
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