(ots) - Der Deutsche Ethikrat stellt heute seine
Stellungnahme "Demenz und Selbstbestimmung" vor, mit der er zu einem
besseren Verständnis der Situation von Menschen mit Demenz beitragen
und Empfehlungen geben will, um einen achtsameren und die
Selbstbestimmung wahrenden Umgang mit den Betroffenen zu fördern.
Derzeit leben in Deutschland etwa 1,2 Millionen Menschen mit einer
mittleren bis schweren Demenz. Angesichts der wachsenden Anzahl der
betroffenen Menschen ist Demenz eine der größten
gesundheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart, nicht nur für
die Gesundheits- und Sozialpolitik, sondern auch für unser
Selbstverständnis als Menschen und als Bürger.
Die Selbstbestimmung gehört wesentlich zum Selbstverständnis des
Menschen und ist ein zentraler Bezugspunkt ethischer Diskurse.
Bislang standen zumeist nur die mit Demenz verbundenen Defizite im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wird der Mensch mit seiner geistigen
Leistung gleichgesetzt, so muss Demenz als Zerstörung des Menschen
erscheinen. Wird er aber nicht nur als denkendes, sondern auch als
empfindendes, emotionales und soziales Wesen verstanden, kann sich
der Blick leichter auf die jeweils noch vorhandenen Ressourcen
richten. Diese Blickrichtung liegt der Stellungnahme des Deutschen
Ethikrates zugrunde, deren Anliegen es ist, deutlich zu machen, dass
auch Menschen mit Demenz noch Möglichkeiten zur Selbstbestimmung
haben, die wahrgenommen und unterstützt werden sollten.
Forschung in Medizin und Pflege sowie die zugehörige Praxis sind
überwiegend auf Früherkennung und Symptomlinderung ausgerichtet,
weniger auf den langen Weg der Erkrankung und die dabei erforderliche
Begleitung. Bislang kann die Krankheit jedoch nur verzögert, nicht
aber dauerhaft aufgehalten werden, sodass eine an Demenz erkrankte
Person mit der fortschreitenden Abnahme ihrer Selbstständigkeit und
zunehmender Hilfsbedürftigkeit konfrontiert ist. Ihrer jeweils noch
möglichen Selbstbestimmung auch dann Raum zu geben, wenn sie
eingeschränkt ist, ist gerade auch vor diesem Hintergrund ein Gebot
der Achtung, die wir dem Einzelnen entgegenzubringen haben. Umso
wichtiger ist es daher, Möglichkeiten zur Wahrnehmung, Achtung und
Förderung der Selbstbestimmung bei Menschen mit Demenz zu entdecken
und zu fördern. Dies erfordert eine Haltung der Achtsamkeit, die sich
an den konkreten Bedürfnissen des Betroffenen orientiert und das
Konzept einer "assistierten Selbstbestimmung" verwirklicht.
Der Deutsche Ethikrat sieht, dass in vielen Familien und in vielen
Heimen die Grundsätze eines achtsamen und die Selbstbestimmung
möglichst lang unterstützenden Umgangs mit von Demenz betroffenen
Menschen mit großem Engagement umgesetzt werden. Den pflegenden
Angehörigen und den beruflich Pflegenden, ohne deren fortwährenden
Einsatz das derzeitige Pflegeniveau nicht gehalten werden könnte,
gebührt hohe Anerkennung und Unterstützung. Allerdings bedarf es
großer gesamtgesellschaftlicher Anstrengung, wenn die Versorgung von
Demenzbetroffenen auch zukünftig sichergestellt sein soll. Hierzu hat
der Deutsche Ethikrat insgesamt 16 Empfehlungen erarbeitet, von denen
die wichtigsten hier kurz vorgestellt werden:
- Der Deutsche Ethikrat bestärkt die Bundesregierung in der
Absicht, einen Nationalen Aktionsplan Demenz zu entwickeln, um
das Vorgehen aller Akteure zur flächendeckenden Verbesserung der
medizinischen, pflegerischen und sozialen Versorgung
Demenzbetroffener zu koordinieren. Dadurch soll die
gesellschaftliche Inklusion von Menschen mit Demenz verstärkt
und ihr Anspruch auf Selbstbestimmung anerkannt werden.
- Bei einer Neufassung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit
sollten die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit
Demenz und die daraus folgenden Aufgaben der Pflege ausreichend
berücksichtigt werden.
- Die Arbeit pflegender Angehöriger bedarf wirksamer Unterstützung
und finanzieller Anerkennung. Es sollte geprüft werden, ob die
aus der häuslichen Pflege vertrauten Personen einen Dementen
auch im Krankenhaus betreuen können.
- Ambulant betreute Haus- und Wohngemeinschaften für Menschen mit
Demenz sollten finanziell stärker gefördert werden. Dazu zählen
insbesondere wohnortnahe Wohn-Pflege-Gemeinschaften, die einen
die Selbstbestimmung ermöglichenden Rahmen schaffen und in denen
professionell Pflegende und Angehörige zusammenarbeiten.
- Die Forschungsförderung im Bereich der Demenz sollte sich bei
der Grundlagenforschung im Sinne translationaler Forschung auf
die klinische Anwendung hin orientieren. Darüber hinaus sollte
sie klinisch-medizinische, psychosoziale und
pflegewissenschaftliche Aspekte sowie die ethisch-rechtliche
Begleitforschung und die Versorgungsforschung umfassen.
- Um die Selbstbestimmungsmöglichkeiten demenzbetroffener Menschen
zu wahren und zu schützen, sollten die Grundsätze der
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen,
die auch für Demenzbetroffene gelten, konsequent zur Anwendung
kommen.
- Die Bereitschaft Angehöriger zur Übernahme ehrenamtlicher
Betreuungen sollte durch praktische Unterstützung während der
Betreuung und durch gesellschaftliche Wertschätzung gestärkt
werden.
- Bei der Prüfung der aktuellen Anwendbarkeit einer
Patientenverfügung sind Äußerungen des Lebenswillens
entscheidungsunfähiger Patienten einzubeziehen. In Fällen, in
denen die Entscheidungsfähigkeit nicht sicher ausgeschlossen
werden kann, ist wegen der Unumkehrbarkeit lebensbeendender
Maßnahmen lebensbejahenden Bekundungen stets der Vorrang vor
einer anders lautenden Patientenverfügung zu geben.
In einem Sondervotum hat Ratsmitglied Volker Gerhardt seine
Bedenken bezüglich zweier Aspekte dargelegt. Dies betrifft zum einen
den mit dem zunehmenden Verlust der Selbstbestimmung einhergehenden
unwiderruflichen Verlust der Persönlichkeit, der nicht verharmlost
werden darf. Zum anderen stellt sich die Frage eines Suizidwunsches,
der aufgrund der Selbstbestimmungsproblematik bei der Demenz in
besonderer Weise eine Rolle spielt.
Die Stellungnahme ist abrufbar unter http://ots.de/iOsdN
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