PresseKat - Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Ukraine/Timoschenko von Ulrich Krökel

Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zu Ukraine/Timoschenko von Ulrich Krökel

ID: 635167

(ots) - Der Gefechtslärm im Fall Julia Timoschenko hat
sich ein wenig gelegt. Mehr als zwei Wochen lang war die Lage durch
den Hungerstreik der inhaftierten Oppositionsführerin, die
EM-Boykottdrohungen aus Berlin und Brüssel und die harte Haltung in
Kiew immer weiter eskaliert. Nun hört Timoschenko auf zu hungern, der
ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch bläst den Ost-West-Gipfel
in Jalta ab, und Deutschland schickt einen Arzt nach Charkiw, statt
auf einer Ausreise Timoschenkos zu beharren. Kurz: Die Schlacht hat
nur Verlierer hervorgebracht. War es das wert? Ja und nein. Ja, weil
sich die europäische Öffentlichkeit sieben Jahre nach der orangenen
Revolution endlich wieder mit einem Land beschäftigt, das eine
zentrale Bedeutung für das Verhältnis zwischen Ost und West hat.
Niemandem in der EU darf es gleichgültig sein, was in dem größten
rein europäischen Flächenstaat des Kontinents geschieht. Das Land
liegt vor unserer Haustür. Unter Janukowitsch aber verwandelt sich
die Ukraine in rasantem Tempo in einen autoritär gelenkten Staat, den
sich eine korrupte Elite unterworfen hat, um ihn auszubeuten. Druck
auf ein solches Regime auszuüben, ist richtig und wichtig. Gefragt
sind nun allerdings Lösungsansätze. Die jüngste Eskalation war vor
allem destruktiv, und in diesem Sinne war die Schlacht ihre Opfer
nicht wert. Vor allem Deutschland steht in den Augen vieler Europäer
plötzlich wieder als Land missionarischer Eiferer da, an dessen Wesen
einmal mehr der Kontinent genesen soll. Schon die Belehrungen der
bankrotten Griechen in der Euro-Krise hatten diesen Verdacht bei
vielen Nachbarn genährt. Es wird höchste Zeit, dass sich die deutsche
Diplomatie wieder auf ihre einstige Stärke besinnt: das Gespräch auf
gleicher Augenhöhe mit allen. Warum sich die Bundesregierung zu einem
öffentlichen Schaukampf mit dem Janukowitsch-Regime hergegeben hat,




statt konsequent politisch zu handeln, ist rational schwer
erklärlich. Berlin sollte sich in naher Zukunft zurückhalten und das
Heft des Handelns in die Hände der EU geben. Da der Ernst der Lage
inzwischen allen Seiten klar sein sollte, besteht die Chance zu einem
diplomatischen Neubeginn. Kompromisse in Menschenrechtsfragen darf es
dabei von westlicher Seite nicht geben. Viel geholfen wäre allerdings
schon, wenn man sich von den Pathos-triefenden "Befreit
Julia!"-Forderungen verabschieden und substanziell über die Lage und
die europäischen Perspektiven der Ukraine sprechen würde - am besten
ohne Schaum vor dem Mund. Der polnische Präsident Bronislaw
Komorowski hat dazu gestern einen wichtigen Vorstoß gemacht. Er
appellierte an den ukrainischen Präsidenten, Timoschenko über eine
Strafrechtsreform zu amnestieren. Diese Idee ist zwar schon ein
Dreivierteljahr alt. Damals nahm Janukowitsch den Vorschlag zunächst
auf, besann sich dann aber eines anderen. So gesehen ist der
Komorowski-Plan, den er ursprünglich beim Gipfel in Jalta verkünden
wollte, keineswegs bahnbrechend. Er signalisiert jedoch: Lasst uns
gemeinsam überlegen, wie wir aus der Sackgasse herausfinden. Es mag
frustrierend sein, sich mit einem Mann wie Janukowitsch, der sein
Volk knechtet und ausplündert, an einen Tisch setzen zu müssen.
Unvermeidlich ist es dennoch. Hinzu kommt: Die Ausgangslage ist gar
nicht so schlecht. Vollständig verloren ist das Erbe der
demokratischen orangenen Revolution von 2004 noch nicht. Viele
Menschen sind bereit, sich ihrem Präsidenten entgegenzustellen. Mit
dem ausgehandelten, aber noch nicht in Kraft gesetzten
Assoziierungsabkommen hat die EU einen Hebel in der Hand, mit dem man
auf die Regierung in Kiew einwirken kann. Dort sind all jene
Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit und Demokratie festgeschrieben,
denen sich Janukowitsch derzeit vor allem wegen des Falles
Timoschenko grundsätzlich verweigert. Gelingt es, beide Diskussionen
zu entkoppeln, könnte es eine neue Gesprächsgrundlage geben.



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Datum: 09.05.2012 - 21:39 Uhr
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