(ots) - Lange nicht mehr hat eine sportliche
Großveranstaltung in Europa für so viel Wirbel gesorgt wie die
bevorstehende Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine.
1980 und 1984 boykottierten westliche Staaten die Olympischen Spiele
in Moskau und Sarajevo. Bald danach aber endete die
Blockkonfrontation. Nun ist plötzlich wieder von Boykott die Rede,
und der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch warnt vor einem
"neuen Kalten Krieg". Was ist da passiert? Zunächst: Die Reaktionen
sind übertrieben. Es gibt zwar zu größter Sorge Anlass, in welchem
Tempo Janukowitsch die Reste von Demokratie und Rechtsstaat in seinem
Land beseitigt. Er hat Dutzende Oppositionelle einkerkern lassen -
nicht nur Julia Timoschenko. Dennoch ist das Janukowitsch-Regime
nicht mit den menschenverachtenden Diktaturen aus sowjetischer Zeit
zu vergleichen. Die Eskalation der vergangenen Wochen ist nur mit
einem grundlegenden Missverständnis zu erklären. In der Europäischen
Union sind viele Politiker allzu lange davon ausgegangen, dass sie es
im Fall der Ukraine mit einer Art Neuauflage der EU-Osterweiterung zu
tun haben - ohne echte Beitrittsperspektive zwar, das Prinzip jedoch
war dasselbe: Mit dem goldenen Westen vor Augen würde sich die
Ukraine immer stärker demokratisieren. Am Ende würden Freiheit und
Wohlstand stehen, ein postsowjetischer Musterstaat. Insbesondere in
Warschau gab man sich dieser hehren Hoffnung hin. Man bedenke, dass
die demokratische orange Revolution in der Ukraine und der
EU-Beitritt Polens in dasselbe Jahr 2004 fielen! Die Nachbarn
preschten anschließend gemeinsam voran. So kam es auch zu der
Doppelbewerbung für die Fußball-Europameisterschaft. Die Wirklichkeit
jedoch sah anders aus, und sie hat die EM-Gastgeber längst eingeholt.
Um die Gegenwart zu begreifen, lohnt ein Rückblick: In der Ukraine
regierten nach dem schmerzhaften Todeskampf der Sowjetunion in den
90er Jahren Rechtlosigkeit und staatlich gedeckte Mafiakriminalität.
Man braucht sich nur den bestialischen Auftragsmord an dem
regimekritischen Journalisten Georgi Gongadze im Jahr 2000 ins
Gedächtnis zu rufen, um das Ausmaß dieser enthemmten Gewaltherrschaft
zu erahnen. Die Henker, die Gongadze kidnappten und köpften,
handelten auf einen Befehl aus dem Präsidentenpalast. Niemand im
Westen kann ermessen, wie stark die Jahrzehnte der Diktatur und die
anschließende Anarchie in der Ukraine auf den mentalen Zustand des
Volkes eingewirkt haben. Wichtiger noch: Wann hätten die Menschen die
Spielregeln von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einüben sollen?
Sie sind Opfer einer skrupellosen, macht- und geldgierigen Elite.
Janukowitsch und seine Schergen haben ihrerseits nicht begriffen, was
es mit dem Projekt Europäische Union, mit westlichen Werten und den
EU-Forderungen nach ehrlichen freiheitlichen Reformen in der Ukraine
auf sich hat. Sie tricksen und taktieren, um in Verhandlungen mit
Brüssel das Optimum herauszuholen - für sich und die herrschende
Klasse, nicht für das Land und die Menschen. Nur durch dieses
wechselseitige Missverstehen ist der Kalte Krieg im Kleinformat zu
erklären, der sich zuletzt so zugespitzt hat. Wie weit die
Wirklichkeiten zwischen den EM-Gastgebern auseinanderklaffen, zeigt
der Vergleich. Das Wirtschaftswunderland Polen entwickelt sich seit
dem EU-Beitritt rasant. In der Ukraine dagegen regieren
Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung. Nicht einmal zu einer
neuerlichen Revolte scheinen Kraft und Wille zu reichen. Die
Opposition findet ebenso wenig Gehör bei den Menschen wie die
Regierung. "Gemeinsam Geschichte schreiben", lautet das Motto der
Fußball-Europameisterschaft. Wenn es in Polen und der Ukraine
gelingen sollte, dank des Sports wieder offener und ernsthafter nach
Gemeinsamkeiten zu suchen, dann wäre dies mehr als ein Sommermärchen.
Es wäre ein EM-Wunder.
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