(ots) - Polens Alpträume sind Wirklichkeit geworden.
Schon in der ersten Woche der Europameisterschaft überschatten
Hooligan-Krawalle das Fußballfest. Schlimmer noch: Polnische Schläger
liefern sich ausgerechnet mit russischen Randalierern eine
Straßenschlacht. Das Verhältnis der beiden Länder ist historisch
belastet und trotz einer gewissen Entspannung noch immer hoch
sensibel. Polen, das sich mit der EM als aufstrebende, moderne Nation
präsentieren wollte, hat nun außer den Sorgen um die Sicherheit auch
ein Imageproblem. Und es ist keineswegs ausgeschlossen, dass es im
weiteren Turnierverlauf schlimmer kommt. Sollten Polen und
Deutschland im Viertelfinale aufeinandertreffen, was nicht
unwahrscheinlich ist, drohen neue, heftigere Hassattacken. All das
ist bitter für die vielen Menschen, die in Polen mit enormem
Engagement für die EM arbeiten. Und es ist traurig für die
überwältigende Mehrheit der friedlich feiernden Fans. Es ist auch
schade um den Fußball, der solch großartige Momente liefern kann wie
das 1:1 des Dortmunder Polen Kuba Blaszczykowski gegen Russland. Aber
diese Magie des Sports, die Emotionen schürt, liefert zugleich
Krawallmachern Munition. Welche Kraft der Fußball hat und welche
Macht er über die Menschen besitzt, hat am Montag auch der Sieg des
zweiten EM-Gastgebers Ukraine gegen Schweden gezeigt. Ein Blick in
die Gesichter der Fans im Kiewer Olympiastadion genügte, um dies zu
erkennen. Wie entrückt fieberten die heimischen Zuschauer mit ihrem
"Schewa", dem 35-jährigen Stürmer Andrej Schewtschenko, der ihnen
"zwei Tore schenkte". So schrieben es ukrainische Zeitungen am Tag
danach und bemühten das Bild der sportlichen, aber auch der
nationalen Wiedergeburt. Die Ukraine ist, völlig anders als Polen,
ein wirtschaftlich und politisch gebeuteltes Land. Nun könnte der
Fußball einen neuen Aufbruch einleiten. Wenn die Männer um "Schewa"
so weiter spielen wie am Montag, kann der Sport ein Wunder
vollbringen. Ein Wunder wie in Bern 1954, als die westdeutsche
Nationalmannschaft neun Jahre nach Kriegsende Weltmeister wurde. Auch
damals war von einer Auferstehung des Landes die Rede. Das
Sommermärchen des Jahres 2006 schließlich schweißte das
wiedervereinigte Deutschland zusammen. "Wir sind wieder wer", lautete
die Botschaft des deutschen WM-Sieges von 54. "Wir sind wer", könnte
die Losung der EM in der Ukraine werden. Denn das ist das
Hauptproblem im größten rein europäischen Flächenstaat des
Kontinents: Vor allem die Eliten finden noch immer keinen Zugang zur
Frage der West-Ost-Orientierung. Was in Polen, Ungarn oder den
baltischen Staaten nach dem Kalten Krieges selbstverständlich war -
die Hinwendung zum Westen, zu Nato und EU -, löst in der Ukraine eine
Sinnkrise nach der nächsten aus. Wollt ihr uns wirklich? Wollen wir
mit euch? Ist eine Rückkoppelung an Russland nicht doch sicherer und
besser? So lauten die Fragen, auf die fast niemand eine eindeutige
Antwort hat. In dieser Lage ist es umso wichtiger, dass sich die
Nation ihrer selbst vergewissert. Allzu oft ist von einer Spaltung
des Landes in einen prorussischen Osten und einen proeuropäischen
Westen geschrieben worden. In der ukrainischen Wirklichkeit sind die
Dinge sehr viel komplizierter. Selbst in den russischsprachigen
Gebieten um Donezk und Charkiw kann oder will sich kaum jemand eine
Neuauflage eines ostslawischen Imperiums unter Moskauer Führung
vorstellen, wie sie Wladimir Putin anstrebt. Ihre Unabhängigkeit ist
den Ukrainern wichtig. Das heißt noch lange nicht, dass sie sich etwa
als Mitglied der Nato gegen den Kreml in Moskau positionieren
möchten. Es ist eine arg verspätete Nationsbildung, die in der
Ukraine zu beobachten ist. Der Fußball hilft dabei, und wenn die
Mannschaft auch gegen Frankreich und England besteht und ins
Viertelfinale einzieht, wird dies dem Land einen Schub verleihen. Am
Ende könnte also alles anders kommen als erwartet: Polen steht als
EM-Verlierer da, die Ukraine als Gewinner. Eine ausgemachte Sache ist
das allerdings nicht. Noch sind Spiele zu spielen. Der Fußball bleibt
unberechenbar - und gerade deswegen so schön.
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