(ots) - Die russisch-orthodoxe Kirche sieht sich selbst
als feste Säule gegen kulturelle Einflüsse des Westens und
Entwicklungen, die das Staatsgefüge erschüttern. So wundert es nicht,
dass Vertreter des Patriarchats nach Medienberichten das Moskauer
Chamownik-Gericht mit Telefonanrufen bombardieren, um ein hartes
Urteil gegen Pussy Riot zu erzwingen. Bereits im April, einen Monat
nach dem Anti-Putin-Gebet der Feministinnen hatte die Kirche in
Moskau zu einer Großkundgebung gegen die "Verhöhnung von Heiligen"
aufgerufen. Die Veranstaltung stand ganz im Zeichen eines
national-religiösen Abwehrkampfes. Auch in der Kirche gibt es
reformerische Kräfte. Hin und wieder erfährt man von ihnen. Da äußert
sich jemand kritisch über die mangelnde Aufarbeitung des
Stalin-Terrors oder warnt, wie jetzt der Diakon und Theologe Andrej
Kulajew, vor dem Schaden für die Kirche, wenn die Frauen von Pussy
Riot zu lange in Haft sind. Solche Stimmen dringen aber nur selten an
die Öffentlichkeit. Die Warnung von Diakon Kulajew ist begründet.
Denn je länger die drei Mitglieder der feministischen Punk-Gruppe
Pussy Riot in Haft sind, desto größer wird nach Meinungsumfragen die
Zahl der Russen, welche sich für Milde gegenüber den drei jungen
Frauen aussprechen. Immerhin haben zwei der Angeklagten kleine
Kinder. In einem Land, in dem fast ein Drittel der Menschen unter der
Armutsgrenze lebt, hätte die Kirche eigentlich die Aufgabe, sich als
soziales Gewissen zu positionieren und sozial Benachteiligte zu
schützen. Da könnte sie viel bewegen, denn die Mehrheit der Russen
bekennt sich zum russisch-orthodoxen Glauben. Doch Zweifel, dass sie
sich nur von religiösen und nicht weltlichen Begehrlichkeiten nach
Macht und Reichtum lenken lässt, bekommen durch das Verhalten
prominenter Vertreter Nahrung. Äußerst peinlich für den Patriarchen
der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill, war, als russische Blogger im
April ein Foto auf der offiziellen Website der Kirche fanden, auf der
sich in der blank polierten Tischplatte, an der der Patriarch saß,
eine sündhaft teure Armbanduhr spiegelte, wobei am Handgelenk des
Kirchenmannes keine Uhr zu sehen war. Die Pressestelle gestand
daraufhin, dass eine 24-jährige, unerfahrene und weltliche
Mitarbeiterin die Uhr auf eigene Initiative wegretuschiert habe.
Bedenklich muss stimmen, dass die russisch-orthodoxe Kirche nicht nur
auf Pussy Riot, sondern auf jegliche Kritik und selbst Satire
aggressiv reagiert. Kaum demonstrieren in Moskau Homosexuelle, sind
sofort von der Polizei geduldete ultranationalistische Kosaken und
Kirchenfahnenträger zur Stelle, welche die Demonstranten tätlich
angreifen. Kirchen-nahe ultranationalistische Kreise zerstörten 2003
Kunstwerke auf einer kirchenkritischen Ausstellung im Moskauer
Sacharow-Zentrum. 2006 klagte eine ultranationalistische Organisation
gegen Andrej Jerofejew, den Kurator einer weiteren kirchenkritischen
Ausstellung am selben Ort. Nur durch eine starke öffentliche
Unterstützung konnte verhindert werden, dass Jerofejew nicht zu
mehreren Jahren Arbeitslager verurteilt wurde. Die Kirche muss sich
der sozialen Realität stellen, will sie nicht an Einfluss verlieren.
In ultranationalistischen Kirchen-Kreisen beliebte
Verschwörungstheorien, nach denen alle größeren Krisen Russlands von
ausländischen Geheimdiensten organisiert wurden, nutzen sich
allmählich ab. Auch mit Gerichtsprozessen und tätlicher
Einschüchterung lässt sich die Modernisierung der russischen
Gesellschaft nicht aufhalten.
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