(ots) - Das Grauen kam in Superzeitlupe. Selten zuvor in
der Geschichte der Menschheit näherte sich eine Katastrophe derart
berechenbar. Route und Kraft des Hurrikans "Sandy" waren bereits Tage
zuvor halbwegs zuverlässig vorausgesagt. Kein Wissenschaftler musste
fürchten, für Fehlprognosen belangt zu werden wie Erdbebenforscher in
Italien. Technik und Kommunikation gaben vielen Menschen die Chance,
sich in Sicherheit zu bringen. Dennoch bleibt Beklommenheit
angesichts dieses Infernos in Echtzeit. Die schaudernde
Erwartungslust, mit der der erste knickende Baukran, der erste
Stromausfall, der erste Tote um die Welt gejagt wurden, hat Züge von
Untergangsvoyeurismus. Zuschauer überboten sich online mit ihren
Unwetterfotos aus Manhattan und fragwürdigen Scherzen. Auch
Katastrophen eröffnen in Zeiten globaler Kommunikation einen
seltsamen Wettbewerb darum, wer mit seinen Facebook-Beiträgen die
meisten Like-Daumen ergattert. Nein, keine schlechtlaunige
Kulturkritik, nur eine hilflose Feststellung mit angehängter
Geschmacksfrage.
Was mögen angesichts des Katastrophenspektakels die Bewohner
Bangladeschs oder der karibischen Inseln denken, denen die Natur
mehrmals im Jahr die kargen Hütten wegreißt, ohne dass die Welt
zuschaut oder gar Anteil nimmt? Die Getroffenen in den USA werden
fluchen und trauern, aber trotz der immensen Schäden aufstehen und
weiterrackern.
Und die politische Dimension des Hurrikans? Zugegeben, eine
durchaus zynische, eine Woche vor der US-Wahl aber naheliegende
Frage. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich die eisige Kühle der
Wahlkampfstrategen auszumalen, die die starken Emotionen dieser
Stunden nutzen wollen. Die Frage, was Show ist und was echte
Anteilnahme, erübrigt sich wohl, solange den Opfern geholfen wird.
Ja, ein Hurrikan kann den bei Wahlkämpfern ebenso erhofften wie
gefürchteten Swing bewirken, jene mit den alltäglichen Mitteln der
Kampagne nicht zu schaffende Mobilisierung der letzten Tage. Auch
wenn das Ausmaß der Schäden nicht zu vergleichen ist, so half das
Hochwasser an Oder und Elbe dem damaligen Bundeskanzler Gerhard
Schröder im Spätsommer 2002 in seine zweite Amtszeit, ein denkbar
knapper Sieg in Gummistiefeln. Krisenzeiten sind Führungszeiten, die
Menschen wollen lieber doch keine Experimente, wählen das Vertraute.
Obamas Lager setzt also alles daran, den Chef im Rettermodus zu
positionieren. Werden wir den US-Präsidenten noch mit Regenjoppe und
besorgtem Blick durch Manhattan stiefeln sehen? Den Herausforderern
bleibt nicht mehr als die Rolle des Zuschauers. Wahltaktische
Spielchen, etwa Kritik am Regierungschef verbieten sich, solange
keine groben Fehler gemacht werden - wie George-Junior Bush bei
Wirbelsturm "Katrina".
Wird "Sandy" womöglich Obamas wichtigster Wahlhelfer? Reicht eine
teilverwüstete Ostküste überhaupt für einen landesweiten Swing?
Natürlich sind die Fragen allein schon eklig. Gleichwohl entsprechen
sie der Logik des politischen Pragmatismus. Alle Folgen von Hurrikan
"Sandy" werden sich erst am 6. November zeigen.
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