(ots) - Merkwürdig, denkt der harmoniebedürftige Deutsche:
Bis vor wenigen Stunden war vom dramatischsten Finish der
Weltgeschichte die Rede. Die Kontrahenten droschen aufeinander ein,
als gäbe es kein Morgen. Beobachter waren schon froh über
Halbwahrheiten. Meistens lag der Substanzgehalt der Parolen deutlich
niedriger.
Und jetzt? Gratuliert der Unterlegene artig. Und der Sieger,
dessen Wahlkampagne von einiger Schmuddeligkeit geprägt war,
tremoliert in bewährtem Pathos von - Einheit, Miteinander,
Gemeinsamkeit. Drama, Musical, medialer Blutrausch - alles vergessen,
Blick nach vorn. Dit is Amerika.
Ab sofort tickt die Uhr für die zweite Halbzeit. Vier Jahre sind
nicht viel, will Barack Obama seinen Traum wahr machen und ein großer
Präsident werden. Warme Veränderungsrhetorik reicht da nicht, der wir
Deutsche so gern glauben. Wir finden ja auch, dass Tom Hanks der
wichtigste TV-Kritiker der Welt ist. Wir denken, dass man Drohnen und
Menschenrechte nicht zusammenbekommt, dass Klimawandel im Weißen Haus
wichtiger sei als günstige Energie.
Obama ist wiedergewählt worden, nicht obwohl, sondern weil er
manchen großen Linien der US-Politik treu geblieben ist, weil er eben
nicht den totalen Change versucht hat. Er hat immerhin zwei Kriege
beendet, eine historische Gesundheitsreform durchgesetzt und im
Moment des Hurrikans seine Krisentauglichkeit bewiesen - diese
Politik hat der Wähler klarer als erwartet legitimiert.
Ab sofort aber steht die eigentliche Aufgabe an. "It's the
economy, stupid" hieß das Motto von Bill Clinton und gilt umso mehr
für Obama: Die Wirtschaft muss brummen. Mit dem digitalen Feuerwerk
im Silicon Valley ist es nicht getan. Woher soll gute Arbeit kommen,
wenn Automobil, Banken und Export schwächeln? Zugleich dürften die
fettesten Jahre der Rüstungsindustrie vorbei sein.
Wohlstand aber ist die Bedingung für alles, was den amerikanischen
Traum ausmacht. Es muss nicht allen sofort spürbar besser gehen, aber
der allgemeine Glaube muss wieder geweckt werden, es könnte schon
bald so weit sein. Hoffnung war stets der Motor der USA. Einheit wird
die zerfurchte Nation nur über den gemeinsamen Traum vom besseren
Morgen zurückgewinnen.
Womöglich sind die Voraussetzungen gar nicht so schlecht. Obamas
Aufsteigerehrgeiz reicht allemal, um zur historischen Figur werden zu
wollen. Er kann nicht wiedergewählt werden, verfügt also über gewisse
Beinfreiheit. Wirbelsturm "Sandy" hat drastisch darauf hingewiesen,
dass überall im Land Investitionsbedarf schlummert. Zudem hat es der
neue Alte mit Republikanern zu tun, denen womöglich Lust und Kraft zu
weiterer Blockade fehlen. Denn die Verlierer werden sich ein paar
grundsätzliche Fragen stellen: Hat diese Niederlage wirklich nur ein
wenig anziehender Kandidat Mitt Romney verschuldet? Oder ist es
schier unmöglich, eine Reihe von Sekten zu bedienen, die einem
normalen Konservativen zu Recht peinlich bis suspekt sind?
"We", so lautete das wohl wichtigste Wort aus dem ersten
Wahlkampf. Gelingt es Obama, dieses Wir-Gefühl mit Zahlen des
Aufschwungs zu unterfüttern, schafft er Wohlstand für alle, dann hat
er Chancen, als ein großer Präsident in die Geschichte einzugehen.
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