(ots) - Die Frühlingsgefühle im nördlichen Afrika sind
einem Kälteschock gewichen. Die Hoffnungen auf demokratische
Entwicklungen und wirtschaftlichen Aufschwung begannen vor knapp zwei
Jahren mit dem Aufstand der Jugend Tunesiens. Mit dem Sturz des
ägyptischen Diktators Mubarak wurden sie weiter beflügelt und
schienen sich mit dem Ende des Ghaddafi-Regimes endgültig zu
erfüllen. Jetzt drohen sie zu platzen. Wie schon Tunesien und Libyen
durchleidet Ägypten, das nahöstliche Land von zentraler Bedeutung für
die Entwicklung in der derzeit bedrohlichsten Krisenregion der Welt,
eine neue Zerreißprobe. Wieder gibt es Massendemonstrationen, wieder
fordern gewaltsame Proteste Tote und Verletzte, weil die neuen
Machthaber einkassieren wollen, was die säkulare, vorwiegend
jugendliche Opposition auf dem legendären Tahir-Platz erkämpft hatte:
Demokratie, freie Wahlen, Rechtsstaat und die Erwartung einer
pluralistischen Gesellschaft, die auch unterschiedliche Religionen
respektiert.
Zwar gab es vor einem Jahr die erste freie Wahl in Ägypten. Doch
deren Sieger, die islamistischen Muslimbrüder, missbrauchten ihre
neue Macht postwendend, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Mit
dem Ziel, einen von islamischen Gesetzen dominierten Staat zu
etablieren. In ihm hat die weltoffene Jugend der Twitter-Generation
ebenso wenig Platz, wie wohl auch die große christliche Minderheit im
Lande. Einmal mehr scheint sich die Vision, arabischer Islam und
westliche Demokratie könnten sich zu einer zukunftsweisenden Symbiose
vereinen, als Illusion zu erweisen. Die dramatische Zuspitzung in
Kairo nährt vielmehr die Skepsis, dass die Muslimbrüder, von deren
Gnaden Präsident Mursi abhängt, die ersten zaghaften demokratischen
Ansätze gleich wieder zu ersticken trachten. Vom Mubarak-Regime einst
unterdrückt, aber von den Armen im Lande, welche die
Mehrheitsverhältnisse am Nil bestimmen, als deren Helfer verehrt, ist
die Bruderschaft zudem die einzige Gruppierung der Nach-Mubarak-Ära
mit klaren politischen Zielen und einer straffen Führungsstruktur.
Jetzt will sie ihre Ernte einfahren.
Noch ist offen, wohin Ägypten in allernächster Zukunft taumelt:
Bürgerkrieg? Militärputsch? Oder doch ein Kompromiss, der die Lage
nicht dauerhaft, wohl aber vorübergehend beruhigt? Der Kampf um die
Macht am Nil muss die Welt beunruhigen. Insbesondere Israel. Wie
immer die politischen Verhältnisse sich entwickeln, Israel kann nicht
länger auf Ägypten als verlässlichen Partner zur Stabilisierung der
Region hoffen. Der einzigen Demokratie im Nahen Osten nach westlichem
Vorbild droht die völlige Isolierung. Umso wichtiger ist die
Wiederaufnahme von Friedensgesprächen mit den Palästinensern. Israel
würde das durch den Stopp des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten
erleichtern, die Palästinenser durch garantierten Gewaltverzicht.
Dieses Szenario im Sinn, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel ihrem Gast
Benjamin Netanjahu gestern zu Recht erneut die deutschen Sorgen wegen
des Siedlungsbaus vorgetragen - in aller Verbundenheit, aber auch in
aller Offenheit.
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