(ots) - Chapeau, Herr Präsident!
Joachim Gauck hat eine Vision für die Zukunft Europas entwickelt -
es war höchste Zeit, dass jemand das tut.
Jedes gute Schloss hat normalerweise ein Gespenst, das dort haust.
Bellevue war anders. Es war sehr lange Zeit von allen guten Geistern
verlassen. Nicht erst, seit Christian Wulff vor fast genau einem Jahr
zurückgetreten war. Auch die Wochen und Monate davor gab es nur sehr
wenig, was aus dem Amtssitz des Bundespräsidenten kam und Relevanz
hatte. Das aber hat sich geändert. Wer einen Beweis dafür gesucht
hat, hat ihn spätestens am Freitag bei der ersten großen Rede von
Joachim Gauck als Bundespräsident gefunden. Europa ist mehr als Krise
und die Politik hat vergessen, den Bürgern dies zu vermitteln; mehr
noch, sie hat vergessen, die Bürger mitzunehmen: Es mag banal
klingen, was Gauck gesagt hat, aber es ist fundamental wichtig. Es
ist, genau genommen, eine Ohrfeige für alle, die nur noch über
Milliardenhilfen, Sparpakete, Rettungsschirme und Sanktionsmaßnahmen
sprechen, nicht aber mehr darüber, warum das alles nötig ist. Gauck
hat sogar explizit die Dobrindts dieser Welt gerügt, wenn auch nicht
namentlich, die den Menschen in den Krisenstaaten das Recht auf Hilfe
absprechen, weil sie angeblich faul und reformunfähig seien. Gauck
hat klar gemacht: Europa ist in der Krise. Es ist eine
selbstverschuldete Krise, aber eine, die gemeinsam gelöst werden
muss. Weil es keinen anderen Weg mehr gibt, weil alles andere ein
Rückschritt ist. Weil der Preis dafür ansonsten zu hoch ist. Seine
Worte waren vor allem deswegen wichtig, weil bei aller Wortfülle in
der politischen Diskussion bislang niemand gesagt hat, warum wir am
Projekt Europa festhalten sollten. Das Merkel- und Schäuble-Credo der
Alternativlosigkeit der Europäischen Union ist zu einer starren
Aussage geworden, die jegliche Diskussion von vornherein im Keim
erstickt. Gauck aber hat den politisch Handelnden einen Auftrag
erteilt, eine Hausaufgabe für die Regierenden in Berlin, Paris oder
London, die sie fehlerfrei bei denjenigen abzuliefern haben, die sie
gewählt haben. Sie lautet: Ohne, dass die Bürger auf dem Weg in die
Zukunft mitgenommen werden, kann es keine Zukunft der europäischen
Gemeinschaft geben. Weil bereits gravierende Fehler gemacht wurden:
Bei der vorschnellen Einführung der Gemeinschaftswährung. Bei der
übereilten Erweiterung der EU, die mit der Entwicklung rein
strukturell nicht mehr mithalten konnte. Weil die Handelnden zu
Getriebenen geworden sind, haben die Bürger das Vertrauen in sie
verloren. Sicher: Der Bundespräsident hat wenig konkrete
Vorstellungen geäußert. Aber dennoch einiges Bemerkenswertes, etwa,
wenn er sich für eine gemeinsame Sprachlichkeit und eine gemeinsame
europäische Öffentlichkeit ausspricht. Gauck hat es geschafft, die
Generalpause, die in der politischen Diskussion über die Zukunft
Europas schon viel zu lange herrscht, zu beenden, eben weil er kein
Politiker ist. Eine Angela Merkel, ein Wolfgang Schäuble, ein Peer
Steinbrück oder ein Jürgen Trittin können zwar sagen, welche Politik
sie für eine Erneuerung Europas sie wählen wollen; sie haben es aber
bisher nicht geschafft, eine Vision für Europa zu entwickeln. Gauck
hat den Anstoß geliefert, indem er klarstellte, dass Europa bereits
ganz konkret existiert: für die junge Generation, die ohne
historische Belastungen aufgewachsen ist, ohnehin. Weil das so ist,
muss Europa auch endlich den Mut haben, zu sich selbst zu stehen und
den eingeschlagenen Weg in die Zukunft fortzuführen; wir brauchen
mehr Europa, nicht weniger. Man muss dies alles nicht teilen. Man
muss es nicht einmal gutheißen. Niemand aber kann nach dieser Rede
behaupten, es fehle an einer Vision, mit der Deutschland für Europa
arbeiten könne. Chapeau, Herr Präsident!
Von Christian Kucznierz, MZ
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