(ots) - So klar und berechtigt Julia Timoschenkos Sieg
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auch war: Der
Fall der inhaftierten ukrainischen Oppositionsführerin ist und bleibt
eine Frage der Macht und der politischen Interessen, nicht des
Rechts. Die Entscheidung über ihr Schicksal treffen weder die
unabhängigen Richter in Straßburg noch die Marionetten in der
ukrainischen Justiz. Das Urteil fällt allein Präsident Viktor
Janukowitsch. Man mag das bedauern, muss es aber zur Kenntnis nehmen.
Das wiederum hat weitreichende Folgen für die gesamteuropäische
Geopolitik. Timoschenko ist längst mehr als eine willkürlich
eingekerkerte Oppositionsführerin in einem autoritären Staat. Sie ist
zum Spielball und zum Symbol im Ringen zwischen der EU und der
Ukraine um eine engere politische und wirtschaftliche Anbindung
geworden. Davon ist auch die strategische Partnerschaft zwischen der
EU und Russland betroffen. Fest steht: Bleibt Timoschenko auf Dauer
in Haft, kann es eine echte Assoziierung der Ukraine nicht geben. Das
wissen alle Beteiligten. In schwierigen und langwierigen
Verhandlungen geht es deshalb derzeit hinter den Kulissen in Kiew und
Brüssel um die Modalitäten eines politischen Handels. Janukowitsch
wird Timoschenko vermutlich irgendwann vor dem EU-Osteuropa-Gipfel im
November unter strengen Auflagen amnestieren. Entscheidend für ihn
dürfte dabei sein, dass seine Rivalin nicht als gleichberechtigte
Gegnerin in die Präsidentenwahl 2015 ziehen kann. Um dies zu
verhindern, verfügt er aber über ausreichend innenpolitische
Druckmittel. Zugleich möchte und muss Janukowitsch sein Gesicht
wahren und sich dem eigenen Volk als erfolgreicher Staatsmann
präsentieren können. Denkbar wäre deshalb, dass Brüssel dem Ukrainer
schnelle Visa-Erleichterungen für seine Landsleute in Aussicht
stellt. Leicht durchzusetzen ist auch das nicht in einem Europa der
Angst vor Kriminalität und "Überfremdung". Schon dies gibt einen
Hinweis darauf, wie unendlich schwierig es sein wird, die Ukraine
eines fernen Tages möglicherweise auf den Pfad zum EU-Beitritt zu
führen, den die Führung in Kiew als strategisches Ziel vorgibt.
Derzeit spricht immerhin vieles dafür, dass sich die EU und die
Ukraine annähern und damit den russischen Präsidenten Wladimir Putin
ausbooten. Der Kremlchef setzt Janukowitsch seit Monaten unter Druck,
sich nach Osten zu wenden und sich einer Union mit Russland,
Kasachstan und Weißrussland anzuschließen. Kommt es anders, wäre dies
zweifellos ein Gewinn für die westliche Welt. Zugleich sollte sich
aber niemand etwas vormachen: Die Ukraine ist nicht im Herzen Europas
verankert, wie dies für viele Beitrittsländer der Jahre 2004 und 2007
gilt - man denke an Polen, Tschechien oder auch Slowenien. Das ist
den handelnden Personen in Kiew sehr bewusst. Janukowitsch weist
nicht allein deshalb auf die engen Beziehungen der Ukraine zu
Russland und auf die historischen Bande hin, die beide Länder
verknüpfen. Wer die Ukraine ins europäische Boot holen will,
erweitert die Union um eine ostslawische Komponente. Ähnlich wie im
Falle der Türkei, so geht es auch bei der Ukraine um einen Partner,
dessen Integration den Rahmen der heutigen EU sprengen würde. Es gibt
Gründe dafür, dies anzustreben. Man sollte sich aber klarmachen, dass
die EU mit den beiden Regionalmächten eine eurasische Dimension
erhielte und sich von Grund auf verändern würde. Die Ukraine und die
Türkei sind nicht Estland und Portugal. Zugegeben: All dies ist
Zukunftsmusik. Aber jeder Weg beginnt mit ersten Schritten. Es ist
fahrlässig, loszumarschieren und später zu schauen, wohin der Pfad
führt. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sich die EU grundsätzliche
Gedanken über die Ziele ihrer Assoziierungs- und Erweiterungspolitik
macht.
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