(ots) - Um es gleich am Anfang zu sagen: Jeder Tote in
Ägypten ist einer zu viel. Die Gewalttaten in diesem Bürgerkrieg sind
eine Tragödie - ob es sich um ein Massaker an Muslimbrüdern handelt
oder um von Muslimen ermordete Christen, die ihre in Brand gesteckten
Kirchen retten wollten. Jeder darf darüber erbost sein und nach dem
Ende der Bluttaten rufen. Gilt das Recht auf Empörung auch für die
Politik? Jeder Politiker kann und soll menschliche Regungen zeigen -
einerseits. Andererseits ist es nie klug, sich den ersten
Gefühlsaufwallungen hinzugeben. Diplomaten regen sich nicht auf, sie
machen sich Notizen. Die Worte mögen kalt klingen, besonders wenn in
Kairos Straßen Schüsse fallen, doch sie sind das Ergebnis von
Erfahrungen. Freilich werden sie in jüngster Zeit immer häufiger
missachtet. Zum einen führt das "Fratzeschneiden im Spiegel der
öffentlichen Meinung" (George Kennan) dazu, dass die Außenpolitiker
aufflackernden Stimmungen folgen, nur um die Wähler zu befriedigen.
Zum anderen sind sie schnell bereit, die Werte und Regeln ihrer
Gesellschaft zu Naturgesetzen zu erheben, die in allen Ecken und
Enden der Welt gültig seien. Die Folge davon ist eine Phrasenpolitik,
die nichts enthüllt außer die eigene Unkenntnis und Hilflosigkeit.
Anders die europäischen Außenminister. Sie schicken sich an, die
ägyptische Armee zu verurteilen und die Hilfen für das bitterarme
Land einzustellen. Darüber hinaus fordern sie von allen Beteiligten,
einen Weg einzuschlagen, der in der Demokratie mündet. Schön wäre
das: ein Ägypten mit Ober- und Unterhaus im Stil der britischen
Demokratie. Oder darf es ein Präsidialsystem nach französischem
Vorbild sein? Die Frage mag man als Polemik werten oder auch nicht.
Zwei Wahrheiten und eine Lehre aber sollten bedacht werden, wenn es
um Ägypten geht. Zunächst die Tatsachen. Erstens: Es gibt keine
demokratische Bewegung in Ägypten. Zweitens: Es gibt nicht einmal
Liberale im klassischen Sinn. Sie aber sind die Stützen der
Demokratie. Zwei große Blöcke stehen sich feindselig gegenüber: die
Armee und die Muslimbrüder. Keiner von ihnen hat je an die Demokratie
geglaubt. Während die Generäle seit dem Sturz der Monarchie 1952 an
den Schalthebeln der Macht sitzen und dafür streiten, auch dort zu
bleiben, haben die Muslimbrüder unter dem frei gewählten Präsidenten
Mursi alles getan, Ägypten in einen Gottesstaat zu verwandeln. Wer
von beiden Lagern wird in dieser Situation ernsthaft für
demokratische Verhältnisse streiten? Vielleicht die kleine dritte
Gruppe, die sich liberal nennt? Vielleicht ist ein Bürgerkrieg
manchmal notwendig, um zu den richtigen Einsichten zu kommen. Ist der
Augsburger Religionsfrieden 1555 ohne die Kämpfe zwischen Katholiken
und Protestanten denkbar? Was wäre die britische Demokratie ohne die
"Glorious Revolution"? Was die Türkei ohne Atatürks brutalen Bruch
mit der Vergangenheit? Ob es gefällt oder nicht: In der Geschichte
ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten oft der Umweg.
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