Deflation und Abwanderung von Unternehmen aus Italien: Altkanzler Helmut Schmidt unterstützt EZB-Präsident Mario Draghi
(firmenpresse) -
Deflation bedeutet Preisverfall. Unternehmen bekommen immer weniger für ihre Güter und Dienstleistungen und können nicht investieren und wachsen. Um dem entgegenzuwirken, peilt die EZB eine Teuerungsrate von 2 % an. In Italien und in der gesamten Eurozone ist die Inflation im Oktober auf 0,7 % abgesunken. Italiens Unternehmerpräsident Squinzi beurteilt die Lage kritisch: „Obwohl die Mehrwertsteuer gerade um ein Prozent angehoben wurde, gibt es eine rückläufige Inflation. Also nicht einmal eine Kostensteigerung durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer hat zu Inflation geführt. Das bedeutet, wir haben eine echte und besorgniserregende Deflation.“
Die Europäische Zentralbank (European Central Bank / Banque Centrale Européenne) hat bereits reagiert und den Leitzinssatz vergangene Woche erneut gesenkt - auf das Rekordtief von 0,25 %. Doch bei den Unternehmern in Italien kommt das billige Geld nicht an. Kreditinstitute reagieren zunehmen skeptisch und zurückhaltend, vergeben kaum mehr Kredite. Im Rahmen des 5. "ZEIT"-Wirtschaftsforums in der Hamburger St.-Michaelis-Kirche diskutierten Altkanzler Helmut Schmidt und der Präsident der Europäische Zentralbank, Mario Draghi, zur Lage in der EU:
•Deutschland sei ein Vorbild für Euro-Krisenstaaten, da es frühzeitig Strukturreformen angepackt habe, sagte Mario Draghi. Die großen Unterschiede in den Leistungsbilanzen der Euro-Länder seien sicherlich ein großes Problem in der Euro-Zone. Diese Ungleichgewichte müsse man überwinden – aber „am besten, indem man den Stärksten nicht schwächt – das macht den Schwächsten nicht stärker.“ Deutschlands Wettbewerbsstärke dürfe nicht beeinträchtigt werden. Zudem baue es inzwischen seine Export-Überschüsse ab. Inklusive Kapitalbilanz entsteht mit den Exporten ein ungeheurer Leistungsbilanz-Überschuss für Deutschland in Höhe von jährlich 240 Milliarden Euro.
•Helmut Schmidt, der fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und mit über 30 Ehrendoktorgraden bedeutender, internationaler Universitäten ausgezeichnet, lobte die Politik des Notenbankchefs ausdrücklich. Er stehe an der Spitze der Institution, die ernsthaft gegen die Euro-Krise kämpfe, so Helmut Schmidt.Die EZB sei die einzige Institution innerhalb der EU, die wirklich handele – im Unterschied zu anderen Institutionen wie etwa der EU-Kommission. „Man kann sich auf Mario Draghi verlassen“, so H. Schmidt.
Neben den Gefahren einer Deflation kommt es zudem zur Abwanderung von italienischen Unternehmen:
•Abwanderung italienischer Unternehmen in die Schweiz
Allein im vergangenen Jahr sind in der Schweiz 39.369 Firmen neu in das Handelsregister eingetragen worden, so die Plattform Startups.ch. Unter den Schweizer Kantonen ist das Tessin der größte Gewinner. Genau dort wurden 2.797 Unternehmen in das Handelsregister eingetragen, was einem Plus von 18,9 % gegenüber dem Vorjahr entspricht. Weshalb kommt es zu einer derart beachtlichen Abwanderungsbewegung italienischer Betriebe ins Tessin?
Zum einem macht das Tessin den größten Teil der italienischen Schweiz aus. Der helvetische Süden ist nicht nur ein klassisches Tourismusgebiet. Darüber sollte nicht übersehen werden, dass nebst dem Finanzsektor auch Industrie und Forschung einen wichtigen Platz im Tessin einnehmen. Und diesen Platz erobern sich zunehmend italienische Firmen.
„Unternehmer – insbesondere aus Italien – können bei uns viel leichter agieren“, sagt Luca Albertoni, Direktor der Tessiner Handelskammer. Sicherlich fällt vielen italienischen Betrieben dieser Schritt leichter als anderswo, weil es für sie keine Sprachbarriere gibt. Und Tessin wirbt für weniger Bürokratie, verbunden mit einem großen Entgegenkommen der Schweizer Behörden. Überdies ist die Gesetzgebung für Unternehmen sehr liberal. Dies betrifft beispielsweise das Schweizer Arbeitsrecht, das den Firmen viel mehr Flexibilität bei der Personalpolitik als in Italien erlaubt, wo selbst dringend notwendige Entlassungen (bislang) nur schwer durchführbar sind.
Das „freundliche Ansiedelungspakt“ der Schweizer Behörden wird abgerundet mit Steuervorteilen: In der Schweiz sind sie deutlich tiefer angesetzt und werden nicht kurzfristig angehoben. Deshalb können die zumeist mittelständischen Unternehmen eine solidere Zukunftsplanung vornehmen.
•Standortmarketing pro Elektronik, Metallurgie, Chemie, IT, Mode, neue Energien
Dass so viele italienische Unternehmen in die Südschweiz gekommen sind, führt Stefano Rizzi, Leiter des Amtes für Wirtschaft im kantonalen Finanzdepartement, auch auf ein gezieltes Tessin-Marketing zurück. Insbesondere gefragt sind Unternehmen, die im Bereich Elektronik, Metallurgie, Chemie, Informatik, Life-Science und erneuerbare Energien tätig sind oder ihren (relevanten) Hauptsitz verlegen wollen. Weil direkt der Kanton für das Standortmarketing zuständig ist, bietet er im gleichen Zuge Beratungen für interessierte Firmen an. Allein im zweiten Halbjahr 2011 wurden 61 Unternehmen in Bellinzona vorstellig, und 11 von ihnen haben beschlossen, sich im Tessin niederzulassen, was zur Schaffung von rund 100 Arbeitsplätzen führt. Darunter finden sich 4 Firmen, die vom Kanton Startgelder erhalten, weil sie sehr innovativ sind.
•Gewerbezentren und Industriezonen
Der Südtessiner Grenzgemeinde Stabio kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Die dortige Industriezone gehört zu den größten des Kantons; die Ansiedlung italienischer Firmen – darunter die Bekleidungsunternehmen E. Zegna und HUGO BOSS – hat sich in den letzten 15 Jahren stark intensiviert. „Die Grenznähe, die guten Verkehrsverbindungen sowie ein Steuerfuß von 70 %, der heuer noch um 5 Prozentpunkte abgesenkt wurde, sind die wichtigsten Gründe für die Attraktivität unserer Industriezone“, erklärt Stabios Gemeindepräsident Claudio Cavadini. Im Schnitt erhält die Gemeinde pro Woche eine Anfrage seitens interessierter italienischer Firmen. Die bereits angesiedelten Unternehmen aus Bereichen wie Metallurgie, Lebensmittel, Plastikmaterialien und Bekleidung bringen Stabio finanziellen Segen, denn sie machen rund die Hälfte der Steuereinnahmen der Gemeinde aus.
Sorgen bereitet hingegen die Tendenz, dass viele im Tessin angesiedelte italienische Firmen zu 70 % (oder mehr) Grenzgänger einstellen. Dies gilt besonders für die Unternehmen in unmittelbarer Grenznähe. Laut Rizzi haben die Firmen zum Teil ihr Personal schon mitgebracht, zumal wenn der Tessiner Markt nicht genügend qualifizierte Arbeiter aufweist. Vor allen Dingen halten Grenzgänger die Lohnkosten tief. Daher knüpft Bellinzona seine Unterstützungsleistungen an die Bedingung, dass auch heimische, Schweizer Arbeitskräfte angestellt werden. Handelskammerdirektor Albertoni fügt hinzu, dass etliche hochqualifizierte Arbeitskräfte im Tessin steuerlich zu sehr belastet sind und in andere Kantone abwandern könnten.
•Wirtschaftsförderung
Mittelfristig soll ein Rahmengesetz geschaffen werden, das die bestehenden Fördermaßnahmen zu einer einheitlichen Strategie zusammenfasst, um mehr Anreize zu schaffen. Zuvor aber will man eine Reform des Gesetzes für wirtschaftliche Innovation durchführen. Aufgrund dieses Gesetzes erhielten im letzten Jahrzehnt 189 bestehende und 130 neugegründete Firmen vom Kanton insgesamt 115 Millionen Franken. Das Problem dabei war, dass etliche dieser Unternehmen auch ohne staatliche Beiträge ihre firmeninterne Innovation notwendigerweise vorangetrieben hätten – der Kanton vielleicht etwas zu großzügig mit finanziellen Zuwendungen gewesen war. Möglich ist natürlich auch, dass von Bellinzona unterstützte Unternehmen in Konkurs gehen. Deshalb soll das neue Gesetz stärker auf die Zusammenarbeit zwischen Firmen und Kanton zielen: Neben der zu forcierenden Bemühung, die allgemeinen Bedingungen für Unternehmen zu verbessern, soll ein „Haus der Innovation“ eingerichtet werden, in welchem persönliche Treffen die Beratung und Unterstützung unternehmerischer Initiativen fördern. So können künftig italienische Firmen ins Tessin drängen, ohne dass Bellinzona unnötig Geld ausgibt.
•„Absolut zentral in Europa gelegen“
Einer, der sich für Stabio entschieden hat, ist der Unternehmer Maurizio Crivellari. Er hatte 2009 seine Logistikfirma gegründet und beschäftigt nun 50 Festangestellte: „Ich bin nicht bereit, mehr als ein Viertel meiner Zeit für Administration und Bürokratie aufzuwenden. In anderen Ländern verliert man damit über 50 %.“ Das Spektrum der neuen Industrien im Tessin ist breit und reicht von Lebensmitteln über Informatik bis zur Kleiderbranche. Und Stefano Rizzi, Leiter des Amtes für Wirtschaft im Finanzdepartement, möchte die Gunst der Stunde nutzen. Das Tessin soll zum Kompetenzzentrum für Luxuslabels werden:
HUGO BOSS, ¬Guess und E. Zegna sind bereits im Südkanton präsent. GUCCI baut zurzeit in Manno bei Lugano ein Logistik-Zentrum. Von Steuerflucht will man im Hause GUCCI aber nichts wissen: „Das Tessin ist absolut zentral gelegen in Europa“, heißt es in der Zentrale in Paris.
•Europas Wirtschaftspolitik vs. Schweizer Interessenpolitik
Der Grund für diese Entwicklung dürfte nach wie vor die Wirtschaftskrise, die sich an der südlichen Peripherie Europas verstärkt auswirkt, sein: zum einen ist es die starre, unflexible Bürokratie in Italien; zum anderen machen die Steuerbehörden in Italien verstärkt Druck auf die Unternehmen. „Die Entwicklung sei der harten italienischen Steuerpolitik unter Ministerpräsident Mario Monti zu verdanken, die viele Italiener ins Tessin gelockt habe“, kommentiert handelszeitung.ch.
Hinzu kommt eine Flucht in den Schweizer Franken. Claudio Cavadini, Gemeindepräsident von Stabio, erhält derzeit für die im südlichsten Zipfel gelegene Gemeinde von italienischen Firmen im Schnitt eine Ansiedelungsanfrage pro Woche. Laut einem Insider machen kantonale und kommunale Steuern im Tessin 20 % aus. In Italien sind es 46 % Steuern.
Handelsüberschüsse Deutschland – Italien
Der Handelsüberschuss in der EU-Zone hatte sich im Monat August 2013 erstmals seit 3 Monaten verringert. Das Plus in der Handelsbilanz lag bei unbereinigt 7,1 Mrd. Euro nach revidierten 18,0 (zunächst 18,2) Milliarden Euro im Vormonat, so Eurostat (EU Statistikamt). Deutschland erzielte von Jahresbeginn bis Juli ein Plus von 114,4 Milliarden Euro in der Handelsbilanz. Das ist mit weitem Abstand der höchste Überschuss unter den Staaten im Euroraum. Dahinter folgen die Niederlande mit einem positiven Saldo in Höhe von 32,7 Milliarden Euro sowie Irland mit 22,3 Mrd. Euro und Italien mit 18,3 Milliarden Euro. Das größte Defizit verbuchte die zweitgrößte Euro-Wirtschaft Frankreich mit minus 44,2 Milliarden Euro.
Im Jahr 2012 wurden Waren im Wert von rund 48,86 Milliarden Euro aus Italien nach Deutschland importiert; dieser Wert liegt deutlich über den Importen der Jahre 2001 bis 2011; Italien konnte trotz der Krise seine Handelsgeschäfte mit Deutschland verbessern. Umgekehrt wurden im Jahr 2012 Waren im Wert von etwa 55,84 Milliarden Euro aus Deutschland nach Italien exportiert. Die Italiener kauften trotz der Krise mehr als in den Jahren 2001 bis 2005 (also vor der Krise) in Deutschland ein. Dies ergibt zwar statistisch einen Handelsüberschuss zugunsten Deutschlands; die Zahlen lassen aber Italien im Verhältnis zu anderen EU-Staaten nicht schlecht aussehen.
Kritik an der aktuellen Leitzinsentscheidung
Der Bankensektor sowie die Versicherer kritisierten die EZB-Entscheidung heftig. Für sie wird es bei einem derart niedrigen Zinsniveau noch schwerer, Erträge zu erwirtschaften und ihre Rendite-Versprechen zu halten. Mario Draghi erklärte, er verstehe die Ängste in der Bevölkerung vor einer langanhaltenden Niedrigzinsphase: „Diese Ängste muss man ernst nehmen.“ Allerdings sei die EZB gehalten, den optimalen Zins für die gesamte Eurozone zu finden. Deutschland habe mit niedrigen Zinsen zu kämpfen, weil es als sicherer Hafen für Anleger in der Euro-Krise gelte. Aber diese Lage sei im Begriff sich zu entspannen.
Wird 2014 noch schlimmer für Italien?
Aller Voraussicht nach wird die Volkswirtschaft Italiens von der Absenkung des Leitzinses der EZB auf das Niveau von 0,25 % nicht profitieren (können).Neben der Kapitalflucht macht Italien vor allem die Abwanderung gesunder und innovativer Unternehmen – in erster Linie in die Schweiz – zu schaffen; hinzu kommen eine nur sehr schwerfällig wirkende Reform sowie eine hohe Jugendarbeitslosigkeit.
Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Analysten prognostizieren einen negativen Ausblick: 2014 könne noch schlimmer werden als 2013. „Die Unternehmen bekommen keinerlei richtige Unterstützung vom Staat. Wenn es den Firmen gut geht, werden auch wieder richtige Arbeitsplätze geschaffen. Arbeitsplätze werden nicht durch Hilfsfonds von der EU geschaffen oder Zuschüssen an die Firmen. Arbeitsplätze werden geschaffen, indem neue Firmen aufmachen und die Nachfrage anzieht“, so die Kritiken.
Auch Altkanzler Schmidt und EZB-Präsident Draghi kritisierten fehlendes Engagement im Kampf gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa. „Eine Jugendarbeitslosenquote von 50 % ist eine Schande für uns alle, so Helmut Schmidt, der in diesem Punkt ebenso vehement Engagement zeigt, wie der Präsident des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz. Die Jugendarbeitslosigkeit zu senken, sei die wichtigste und drängendste Aufgabe der EU. Bislang sei viel zu wenig passiert. Ob EU-Kommission, die Staatschefs oder das Parlament: Sie redeten nur, aber handelten wenig.
Und Mario Draghi bemängelte die Arbeitsmarktreformen in einigen EU-Ländern, ohne sie namentlich zu nennen. Einige Reformen hätten die Probleme noch verstärkt: Manche Regierungen hätten zwar den Arbeitsmarkt dereguliert – vor allem aber zu Lasten der jungen Leute, die kaum mehr eine Chance auf eine Festanstellung hätten.
Europa braucht Stabilität und Solidarität
Altkanzler Helmut Schmidt betonte, Deutschland stehe in der Pflicht zur Solidarität; das Land habe in der Vergangenheit von Europa profitiert und müsse jetzt etwas zurückzahlen. Europa braucht Stabilität und Solidarität gleichermaßen.
Zwar konnte Italien im Jahr 2012 Waren im Wert von rund 48,86 Milliarden Euro nach Deutschland exortieren; Indes wächst in Italien die Angst, die Schieflage des Landes könnte zu einem Ausverkauf führen.
Sandro Valecchi, Analyst
A + U
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D-10555 Berlin (Germany)
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