(ots) - Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan
hat wieder einmal eindrucksvoll bewiesen, was ihn beeindruckt: rein
gar nichts. Seinen Appell, endlich mehr Demokratie zu wagen, hätte
Bundespräsident Gauck offenbar genauso gut an das Kopfkissen in
seiner Hotelsuite richten können. Dass der Taksim-Platz in Istanbul
für die türkischen Gewerkschaften eine extrem hohe symbolische
Bedeutung hat, ist dem Premier völlig egal - wohlgemerkt einem Mann,
der sonst gerne mit seiner niederen Herkunft kokettiert und der mit
der Attitüde des Anwalts der "kleinen Leute" haushoch Wahlen gewinnt.
Aber wie lange noch? Das Bemerkenswerte am gestrigen Tag ist ja
nicht, dass Erdogan mit einem aberwitzigen Polizeiaufgebot eine
Demonstration stoppen konnte. Viel interessanter ist, wer da
demonstrierte: linke Gewerkschafter, die sich als "revolutionär"
bezeichnen, die kemalistische Oppositionspartei CHP und die
Kurdenpartei HDP. Die CHP ist ja nach deutschem Verständnis nicht
wirklich sozialdemokratisch, sondern eher nationalliberal-konservativ
- und damit zu linken oder gar kurdischen Parteien auf Distanz.
Allerdings hat sie in ihrer bewegten Geschichte auch politische
Schwenks hingelegt, die von Flexibilität zeugen. Und sie hat als
Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk große
identitätsstiftende Kraft. Wenn sie sich als geläuterte Alternative
zur zunehmend korrupten AKP Erdogans erweist, könnte sie diesem seine
Basis - die "kleinen Leute" - durchaus abspenstig machen. Denn deren
Verständnis für den Regierungschef wird schwinden, wenn der aus
lauter Paranoia mal eben ganze Stadtviertel mit Tränengas
bombardieren lässt - wie in Besiktas geschehen. Wie kurz ist für
Erdogan der Weg von abgeworfenen Tränengaskanistern zu jenen
Fassbomben, mit denen der benachbarte syrische Diktator Assad die
Opposition traktiert? Dass Erdogan Assad als Todfeind betrachtet,
muss nichts heißen: In den Methoden nähert er sich ihm an. Seine
Sicherheitskräfte scheinen da noch keine Skrupel zu kennen - aber
auch das kann sich ändern.
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