(ots) - »Wahlbetrug« ist kein schönes Wort, sondern ein
sehr schwerwiegender Vorwurf. Erst recht unter politischen Freunden.
Wenn es der renommierte Bielefelder CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok
trotzdem für nötig hält, alle EVP-Regierungschefs samt »seiner«
Kanzlerin öffentlich vor Wahlbetrug zu warnen, weiß man, was die
Stunde geschlagen hat. Im Streit um die Benennung des neuen
EU-Kommissionspräsidenten geht es um weit mehr als um eine
Personalie. Hat das nun auch Angela Merkel eingesehen und deshalb
eingelenkt? Ihre Äußerung auf dem Katholikentag deutet darauf hin,
lässt aber Raum für Interpretationen. Für den Moment war der Druck
wohl zu groß geworden. So hat die Kanzlerin in Regensburg erklärt,
sich für die Wahl von Jean-Claude Juncker »einzusetzen«. Das freilich
ist etwas anderes, als seine Wahl - sagen wir es einmal im besten
Merkel-Deutsch - alternativlos zu nennen. Ein Zweifel bleibt: Zu oft
hat sich die Kanzlerin als Meisterin des Ungefähren bewiesen. Dabei
steht fest: Wird jemand anderes als Juncker Kommissionspräsident, so
trifft Broks Vorwurf in all seiner Schärfe zu. Der Schaden für die
europäische Idee wäre immens. Die Wähler müssten sich vollends an der
Nase herumgeführt vorkommen. Die Frage lautet: Nimmt der mit dem
Vertrag von Lissabon angestoßene Demokratisierungsprozess der EU
weiter an Fahrt auf, oder setzt sich wieder die Hinterzimmerkungelei
der Staats- und Regierungschefs durch? Ersteres war das Versprechen
dieses Wahlkampfes, für den mit Juncker und seinem sozialistischen
Gegenkandidaten Martin Schulz erstmals Personen standen. Gewiss kann
man viel an Juncker wie an Schulz aussetzen. Man kann beide als
Vertreter des etablierten Europa und einer EU des »Weiter so«
schelten. Doch all das hätte vor ihrer Kür erwogen werden müssen.
Oder sollte der EVP-Nominierungsparteitag in Dublin bloß Laientheater
gewesen sein? Volksverdummung auf ganz großer Bühne? Gelänge es den
vom britischen Premierminister David Cameron angeführten
Juncker-Kritikern in der EVP-Familie doch noch, die Wahl des
Luxemburgers zu verhindern, dürfte sich niemand über die Folgen
wundern. Selbst jene, die allen Krisen und sämtlichen Glühbirnen- wie
Gurken-Verordnungen zum Trotz stets an Europa geglaubt haben, hätten
dann Grund, sich abzuwenden. Natürlich muss sich die Politik fragen,
welcher Konsequenzen es bedarf nach einer Wahl, die in zu vielen
Mitgliedsländern Europaskeptikern, ja sogar offenen Europagegnern
satte Zugewinne gebracht hat? Doch weniger Demokratie kann nicht die
Antwort sein. Angela Merkel bleibt nur die Wahl, ob sie den Streit im
Europäischen Rat aushält, der den Kommissionspräsidenten mit
qualifizierter Mehrheit vorschlägt, oder ob sie den Streit mit dem
Europaparlament vorzieht, das den vorgeschlagenen Kandidaten wählt.
Letzteres mag bequemer sein, falsch wäre es trotzdem. Und es träfe
Europa ins Herz!
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