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Westfalen-Blatt: zur Europäischen Union

ID: 1230908

(ots) - Dass Europa große Probleme hat, ist nicht neu.
Der eklatante Mangel an Lösungen aber macht daraus eine Krise.
Zerrissen zwischen Grexit und Brexit, also dem möglichen Ausscheiden
gleich zweier Staaten aus dem europäischen Völkerverbund, gespalten
in der Frage eines menschlichen Umgangs mit Flüchtlingen, ringt die
EU nicht nur einfach um Antworten. Es scheint fast so, als sei ihr
Potenzial an Zusammenhalt erschöpft, um diesen Herausforderungen noch
etwas entgegensetzen zu können. Die bittere Bilanz des italienischen
Premierministers Matteo Renzi markiert einen Tiefpunkt. Die
Bereitschaft, gemeinschaftlich zu handeln, ist zwar schon länger im
Schwinden. In der Frage der Aufnahme von Kriegsopfern aus Syrien und
dem nördlichen Afrika aber zeigt sich der nationale Egoismus wie eine
hässliche Fratze. Nach dem lange vergeblichen Kampf gegen die
grassierende Arbeitslosigkeit im Süden der Union, nach dem
unfassbaren Gezerre um die Rettung und Sanierung Griechenlands,
angesichts der britischen Absetzbewegungen und nun auch nach dem
Versagen im Umgang mit Asylbewerbern darf sich niemand darüber
wundern, wenn die Bürger an der Fähigkeit der EU zweifeln, Probleme
nicht nur beschreiben, sondern eben auch lösen zu können.
Wahlergebnisse, die ins Extreme ausufern, eine Wahlbeteiligung, die
stetig zurückgeht, sind die Konsequenz. Je größer die Union geworden
ist, umso heftiger fallen die nationalistisch-egoistischen Ausfälle
einzelner auf. Dass zeitgleich der harte Kern über eine engere
Wirtschafts- und Währungsunion nachdenkt, passt ins Bild. Die
Reformwünsche des britischen Regierungschefs David Cameron, der im
Wesentlichen einen liberalisierten Binnenmarkt will, aber möglichst
wenig soziale oder gesellschaftliche Schutzstandards für alle
akzeptieren möchte, werden von nicht wenigen geteilt. Wer stattdessen




auf die ureigenen Werte dieser EU wie Reise-, Niederlassungsfreiheit
und Menschlichkeit pocht, erscheint wie ein Fremder in der Runde
derer, die den europäischen Traum mit einem lukrativen Markt
gleichsetzen. Die Bundeskanzlerin hat völlig Recht, wenn sie diese
Atmosphäre verdunstender Solidarität als die vielleicht größte
Herausforderung ihrer Amtszeit bezeichnet. Tatsächlich kann die EU
nur dann funktionieren, wenn jeder nach den gleichen Regeln handelt.
Grundwerte oder Wettbewerbsfähigkeit, haushaltspolitische Stabilität
und soziale Solidarität sind keine Luxusgüter, sondern der Rahmen für
einen Markt, der ökonomische Chancen, aber auch Sicherheit und
Wachstum in jeder Hinsicht verspricht. Man darf nicht bei sich selbst
auslassen, was man von anderen fordert. Die Frucht politischer
Reformen kann nicht nur darin bestehen, anschließend der Zahlmeister
anderer zu sein.



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Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
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Datum: 26.06.2015 - 21:00 Uhr
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