PresseKat - Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Sebastian Heinrich zu Armutsbericht/soziale Gerechtigkeit

Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Sebastian Heinrich zu Armutsbericht/soziale Gerechtigkeit

ID: 1324696

(ots) - Zwei Nachrichten an einem Tag. Nachricht eins:
Die Bundesregierung meldet den größten Einnahmen- Überschuss seit
1990, weil die Wirtschaft weiter wächst und die Steuereinnahmen
entsprechend hoch bleiben. Nachricht zwei: Die Armut in Deutschland
bleibt laut dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands
stabil, in einigen Bundesländern - darunter Bayern - wächst sie
weiter. Auf den ersten Blick passen diese zwei Nachrichten nicht
zusammen. Auf den zweiten Blick schon. Denn Wirtschaftswachstum
beschert schon seit Jahren weiten Teilen der deutschen Bevölkerung
keinen zusätzlichen Wohlstand mehr. Diese Entwicklung birgt eine
Menge sozialer Sprengstoff - viel mehr als etwa die Flüchtlingskrise.
Diese Entwicklung ist kein Zufall, sondern die Folge einer Politik
der sozialen Kälte. Seit Jahrzehnten wird in Deutschland Reichtum von
unten nach oben verteilt. Die Einkommen von Arbeitnehmern werden
heute stärker, die Gewinne von Unternehmern und Aktionären geringer
belastet als früher: Für Arbeiter und Angestellte ist das
Rentenniveau über die vergangenen 20 Jahre gesunken, Mehrwertsteuer
und Krankenkassenbeiträge sind gestiegen (während letztere für die
Arbeitgeber eingefroren wurden). Am Ende des Monats bleibt im Schnitt
weniger Netto vom Brutto. Auf der anderen Seite ist die
Körperschaftsteuer kontinuierlich gesunken, die Vermögenssteuer
längst Geschichte - und bei der Erbschaftsteuer waren die Vorteile
für Betriebserben so großzügig, dass das Bundesverfassungsgericht die
Steuer kippte. Arbeitnehmer zahlen bis zu 45% Steuern auf ihr
Einkommen, Aktionäre nur knapp über 25%. Hinzu kommt, dass seit
Jahren dringend nötige staatliche Investitionen blockiert oder
aufgeschoben werden - im Sinne der fast schon kultisch verehrten
Schwarzen Null. Ein Investitionsstau, der weniger reiche Menschen




überproportional trifft: Weil sie keine Alternative haben zu maroden
öffentlichen Schulen, weil viele Arbeitsplätze gerade für
Nicht-Akademiker etwa mangels öffentlicher Bauaufträge einfach nicht
entstehen. Auch das nach wie vor stabile deutsche Wirtschaftswachstum
birgt eigentlich ein Drama der Arbeitnehmer: Durch niedrige Zinsen am
Kapitalmarkt lohnt sich das Sparen kaum mehr - weswegen die Menschen
ihr Gehalt lieber gleich ausgeben und so die Binnennachfrage stärken,
aber andererseits viel weniger privates Vermögen aufbauen. Und nicht
nur diese Nachwehen der Finanzkrise dopen das Wirtschaftswachstum:
Ein großer Teil des Bruttoinlandsprodukt-Anstiegs um 1,7 Prozent im
Jahr 2015 geht auf niedrige Rohstoffpreise und auf (zurecht) erhöhte
Staatsausgaben im Zuge der Flüchtlingskrise zurück. Die deutsche
Ungleichheit ist eine Schattenseite jener Agenda 2010, die dazu
beigetragen hat, dass Deutschland die europäische Wirtschaftskrise
viel besser überstanden hat als viele Nachbarländer. Doch der Preis
dafür wird immer höher. Und wenn die Politik nicht gegensteuert, wird
er so hoch werden, dass auch die wohlhabenden Deutschen die Zeche
zahlen. Nämlich, wenn den Verbrauchern das Geld nicht mehr so locker
in der Tasche sitzt, weil Benzin und Kredite wieder teurer werden;
wenn sich die soziale Schieflage so weit verschärft, dass Sicherheit
und politische Stabilität in Deutschland ins Wanken geraten. Es ist
höchste Zeit für einen Kurswechsel. Auf der einen Seite müssen
Aktiengewinne stärker und Erbschaften gerechter besteuert werden, auf
der anderen Arbeitnehmer entlastet: etwa durch die ernsthafte
Abschaffung der kalten Progression, die selbst kleine
Gehaltserhöhungen auffrisst - einWahlversprechen der Union, aus dem
bisher nur ein minimal wirksames Reförmchen geworden ist. Es ist im
Interesse aller, dass die Schere zwischen Arm und Reich wieder
zugeht. Das ist keine Sozialromantik, sondern eine der großen
Zukunftsfragen für Deutschland. Es ist und bleibt der letzte Zweck
jeder Wirtschaft, die Menschen aus materieller Not und Enge zu
befreien. Das hat Ludwig Erhard geschrieben, konservativer Vater des
Wirtschaftswunders, glühender Verfechter der Marktwirtschaft - und
einer der klügsten Politiker, die dieses Land je regiert haben.



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Datum: 23.02.2016 - 17:41 Uhr
Sprache: Deutsch
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