(ots) - »Wir sind uns insgesamt schuldig, dass wir hier
mehr tun.« Mit diesen Worten hat Angela Merkel auf den Untergang
eines Bootes mit hunderten Geflüchteten im Mittelmeer reagiert. Das
ist genau ein Jahr her. Wie viele Menschen damals starben, weiß immer
noch niemand. 800, vielleicht über 900. Und doch war das Unglück
keine Ausnahme - in den Tagen zuvor, so wurde seinerzeit vermeldet,
waren bereits über 1000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. »Wir
werden alles tun«, hatte die Kanzlerin gesagt, »um zu verhindern,
dass weitere Opfer im Mittelmeer vor unserer Haustür umkommen auf
quälende Art und Weise.« Das Sterben ging weiter. Und es geht weiter:
Ein Jahr nach der von Politkern in Europa wortreich betrauerten
Tragödie sind wieder Menschen im Mittelmeer ertrunken. Wie viele Tote
es diesmal sind, war am Montag noch nicht klar - Meldungen sprachen
von bis zu 400 Opfern. Somalier vor allem, die vor Not, Verfolgung
und Krieg geflohen sind; Menschen, denen Europa praktisch legale
Fluchtwege verweigert; Schutzbedürftige, denen internationale
Vereinbarungen über den Umgang mit Flüchtlingen wie Hohn vorkommen
müssen - wenn sie denn überlebt haben. Es wurde nicht nur nicht
»alles« getan, um den Massentod der Menschen im Mittelmeer zu
stoppen. Sondern es wurden Entscheidungen von Regierungen getroffen,
die das fortgesetzte Sterben der Geflüchteten einkalkulierten -
darüber täuschen auch Marinemissionen nicht hinweg, bei denen fast
täglich Menschen aus seeuntauglichen Booten gefischt werden und die
wie jene vor Libyen immer mehr den Charakter von vorverlagerter
Flüchtlingsabwehr annehmen. Was ist geworden aus jenem »hier mehr
tun«, von dem Merkel vor einem Jahr sprach? Es hat Gipfel gegeben und
Zusagen. Die Festung Europa hat sich nach außen noch mehr verpanzert
- und das mit Hilfe von Regimen, die ein politisches Geschäft mit der
Flucht machen. Zwischen den EU-Staaten wurden neue Mauern
hochgezogen. Das, was als »Flüchtlingskrise« völlig verzerrt
bezeichnet wird, hat die Krise der Solidarität mit Schwächeren, die
Fliehkräfte in der EU und die kaltschnäuzige Art verschärft, mit der
nicht nur Rechtsregierungen zeigen, wie egal ihnen die »Werte
Europas« sind, die sonst gern beschworen werden. Der Versuch, für den
staatlich geduldeten Migrantentod vor allem Schleuser verantwortlich
zu machen, war immer schon eine schuldabweisende Lüge - würde es
sichere und legale Fluchtrouten geben, wäre das Geschäft mit der Not
längst ausgetrocknet. Nach der Tragödie vor einem Jahr wurde auch die
Bekämpfung von Fluchtursachen angemahnt. Weder hat es seither ein
Moratorium von Rüstungsexporten aus der EU gegeben noch ist von
europäischen Schritten etwas zu spüren, die wirksam zur Beilegung von
Konflikten oder zur Ächtung von Diktatoren beitragen. Die Ausbeutung
des globalen Südens durch den ökonomischen Norden läuft allen
wohlfeilen Erklärungen zum Trotz, anderswo auch Entwicklungschancen
zu gewähren, weiter. Fast täglich erreichen uns Meldungen darüber,
welche Milliardenzusagen für internationale Hilfe in den Armutszonen
der kapitalistischen Welt wieder einmal nicht eingehalten wurden.
Bisweilen kommt Europas wahre Haltung in solcher Weise zum Ausdruck:
Deutschland schraubt seine Ausgaben für staatliche
Entwicklungszusammenarbeit hoch, weil nun die Ausgaben für die
Geflüchteten hierzulande mitgerechnet werden - obwohl es doch
eigentlich darum gehen sollte, woanders Bleibeperspektiven zu
stärken. Der aller staatlichen Fluchtbegrenzung zugrundeliegende
Gedanke, Migration könne sich anno 2016 steuern, aufhalten, mit Geld
an Despoten oder Stacheldraht an Grenzen verringern lassen, verkennt,
dass die Wanderungsbewegungen von Menschen nicht eine Ausnahme sind,
die man als »Flüchtlingskrise bewältigen« kann - sondern das Signum
einer Epoche, die gerade erst begonnen hat. Für die Glaubwürdigkeit
der gesellschaftlichen Linken wäre es hilfreich, die Forderung nach
offenen Grenzen für alle politisch endlich substanziell zu
unterfüttern und so von dem Verdacht zu befreien, es gehe hier um
eine bloß moralische und ohnehin naive Idee. Die EU hat ihre toten
Flüchtlinge stets wortreich beklagt - doch das Sterben ging weiter.
Seit 2000 sind über 30 000 Menschen auf der Flucht nach Europa ums
Leben gekommen. Wie soll man das in Worte bringen? Es ist ein stiller
Krieg gegen Menschen von woanders, der da im Gange ist. Und er läuft
nicht nur im Mittelmeer. Amnesty hat jetzt noch einmal auf die Lage
Zehntausender Geflüchteter in Griechenland hingewiesen, die dort in
Schmutz und Dreck leben müssen. Von den über 66 000 Asylsuchenden,
die von der EU eigentlich schon seit September 2015 auf andere
Staaten verteilt werden sollen, sind bis Montag gerade einmal 615 in
anderen Mitgliedsländern untergekommen - weniger als ein Prozent! An
Grenzen werden Familien mit Gaskartuschen beschossen, weil sie aus
dem Elend zu entfliehen suchen - einem Elend, das nicht vom Himmel
gefallen ist, sondern das Ergebnis einer Politik, zu der es
Alternativen gäbe. Spezialisten der italienischen Marine haben dieser
Tage damit begonnen, das vor einem Jahr zur Todesfalle für Hunderte
gewordene Schiffswrack zu bergen. »Das ist nicht nur eine rechtliche,
sondern vor allem eine menschliche und ethische Pflicht«, wurde der
von Italiens Regierung dazu ernannte außerordentliche Kommissar für
vermisste Personen, Vittorio Piscitelli, zitiert. Sein Posten
existiert überhaupt nur, weil es das politisch geduldete
Massensterben im Mittelmeer gibt.
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