(ots) - Die Österreicher haben Humor. Ihr Wort des
Jahres ist 51 Buchstaben lang:
Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung. Im Unterschied
zum deutschen Wort des Jahres, das von der Gesellschaft für deutsche
Sprache bestimmt wird, orientierte sich die Jury im Nachbarland an
einer Online-Abstimmung.
Da geht es bei uns wissenschaftlicher, pädagogischer und
didaktischer zu. Denn der ausgesuchte Begriff soll von
gesellschaftlicher und politischer Relevanz sein. Und das ist
»postfaktisch« absolut.
Das Kunstwort geht auf das englische »post truth« (nach der
Wahrheit) zurück. Und wie es bei Übersetzungen oder Übertragungen von
einer Sprache in die andere oft so ist: Fakten sind nicht
gleichbedeutend mit Wahrheit.
Unter »postfaktisch« fällt so ziemlich alles, was die
Glaubwürdigkeitskrise ausdrückt. Keine Frage: Wenn Fakten nicht mehr
zählen, ist die Demokratie gefährdet. Aber: Was sind Fakten, und sind
diese überhaupt gesichert?
Die Brexit-Kampagne des britischen Populisten Nigel Farage
basierte auf dem Slogan »Schluss mit 350 Millionen Pfund pro Woche
für die EU: Lieber das britische Gesundheitssystem unterstützen«. Die
Summe stimmte hinten und vorne nicht, aber sie verfing und erzeugte
eine Anti-Europa-Stimmung. Auch wegen dieser Lüge - und nichts
anderes ist die vorsätzliche Verbreitung falscher Zahlen - haben sich
die Briten mehrheitlich für den Austritt aus der Europäischen Union
entschieden.
Viele Leute glauben Politikern und Medien nicht mehr. Dafür ist
eine Ursache, dass in der Flüchtlingskrise die Zahlen oft nicht
stimmten. Vor einem Jahr hatte die Öffentlichkeit die Wahl zwischen
70 Prozent Ärzten und 70 Prozent Analphabeten unter den Flüchtlingen.
Und wenn Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sich in
Berlin vor die Fernsehkameras stellt und die hochoffizielle
Flüchtlingszahl für 2015 auf 890000 beziffert - wird das von allen
geglaubt? Oder anders gefragt: Geht diese Zahl noch als Faktum durch?
Oder sind wir schon so weit, dass Bürger dem Staat, seiner Regierung
und seinen Behörden zutrauen, Zahlen unter einem Schwellenwert zu
halten, wie Preise im Supermarkt? Wer das glaubt, der glaubt auch
nicht die BAMF-Zahlen von 491000 noch unbearbeiteten Asylanträgen.
Als Attribut trifft »postfaktisch« nicht nur auf rechtspopulistische
Parteien zu. Wenn es um Altersarmut geht, lassen auch
Linkspopulisten gerne mal Fakten weg.
Das Wort des Jahres 2016 ist eine gute Wahl, weil der Begriff für
eine Entwicklung steht, die uns ganz sicher weiter beschäftigen wird.
Fakt ist: Das ist keine schöne Aussicht.
Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Chef vom Dienst Nachrichten
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 - 585261
Original-Content von: Westfalen-Blatt, übermittelt durch news aktuell