(ots) - Ich möchte die Augen schließen, meine Ohren
zuhalten, doch es hilft nicht: Die Nachricht, dass sich in jeder
Schulklasse mindestens ein oder sogar zwei Kinder befinden, die
missbraucht werden, will nicht aus dem Kopf.
Dabei ist es in der Regel nicht der anonyme fremde Mann, der
hinterm Busch lauert oder sein Opfer mit fragwürdigen Versprechen ins
Auto lockt. Der Täter ist viel öfter der Vater. Der Stiefvater.
Onkel. Bruder. Lehrer. Der Mann von nebenan. In selteneren Fällen
eine Frau. Die Mutter. Kurz: Es sind die Menschen, denen das Kind
vertraut. Die es liebt.
Weil das so ist, ist die Arbeit der Unabhängigen Kommission zur
Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs so wichtig. Hier kommen
endlich die Opfer zu Wort. Ihre Berichte berühren uns. Zahlen sind
wichtig, um zu zeigen, dass Kindesmissbrauch in Deutschland kein
schmuddeliges und randständiges Thema ist. Doch erschüttern kann uns
viel mehr der konkrete Einzelfall.
Und erschüttern müssen wir uns lassen. Opfer von Missbrauch klagen
natürlich die Täter an. Doch als fast genauso schlimm empfinden
viele, dass ihre Umgebung wegsieht - ihnen im schlimmsten Fall sogar
die Schuld gibt. Die Mutter, die ihre Tochter als »Lügnerin« oder
sogar »Schlampe« bezeichnet, entzieht ihr das letzte Stückchen von
dem Strohhalm, an dem es sich vielleicht noch halten könnte. Sicher,
diese Frauen sind selbst schwach. Sie fürchten um die Beziehung, um
die Familie, um sich selbst. Umso wichtiger ist es, sie immer und
überall, öffentlich und im Privaten, an ihre Verantwortung zu
erinnern. Jeder hat das Recht, einmal schwach zu sein. Aber es gibt
Augenblicke, da wird man durch Schwäche zum Mittäter oder zur
Mittäterin.
Wissenschaftler sagen zu Recht, das Sex mit unter 14-Jährigen in
jedem Fall Missbrauch ist - auch wenn das Kind scheinbar zugestimmt
hat. Kinder müssen erst lernen, dass sie das Recht haben, Nein zu
sagen. Und dass ihr Nein zählt. In Familien, in denen Missbrauch
geschieht, lernen sie das nicht.
Hier beginnt die Verantwortung der Nachbarschaft, der
Gesellschaft. So unangenehm es ist: Hinsehen und hinhören ist
Pflicht. Es kann nicht so schwer sein, zwischen einer zärtlichen
Umarmung, die unter Eltern und Kindern normal ist und normal sein
muss, und Berührungen, die das Kind ablehnt und die seine Seele
verletzen, zu unterscheiden.
Es ist gut, dass sexueller Missbrauch in Schulen und
Jugendeinrichtungen auch Jahrzehnte nach der Tat an die
Öffentlichkeit gebracht wird. Die Rolle sozialer Medien beim
Missbrauch wird ebenfalls zum Thema. Und, ja, es geschieht gerade in
den Schulen einiges, um den vielfachen sexuellen Missbrauch zu Hause
aus der Tabuzone zu holen. Wer dennoch die Augen verschließt und
Ohren zuhält, wenn er eines solchen Verbrechens gewahr wird, macht
sich zum Mittäter.
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Andreas Kolesch
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