(ots) - Auf den ersten Blick spricht nichts dagegen:
Helmut Kohl hat sich einen europäischen Staatsakt anstelle des sonst
üblichen deutschen Zeremoniells gewünscht. Sein politischer Ziehsohn
und enger Freund Jean-Claude Juncker erfüllt ihm diesen Wunsch, im
Schulterschluss mit Kohls Familie sowie den zuständigen deutschen und
französischen Behörden. Dabei entstehen bewegende Bilder, die
vielleicht Kohls Lebensthema von der friedensstiftenden Wirkung der
EU ins öffentliche Bewusstsein zurückholen und ein wenig neuen Glanz
in das recht angestaubte "Europäische Haus" zaubern. Denkt man aber
über den unmittelbaren Anlass hinaus, dann geht es hier nicht um eine
außergewöhnliche Geste für einen Ausnahmepolitiker. Es werden
vielmehr Ikonographien geschaffen, die die Europäer weiter spalten
könnten, statt sie zusammen zu führen. Versetzt man sich einen Moment
lang in die Perspektive eines französischen, polnischen oder
niederländischen Zeitgenossen, so wird rasch klar, dass aus ihrer
Sicht eine historisch einmalige Zeremonie dieser Art nicht unbedingt
zwingend, vielleicht sogar anmaßend ist. Man kann diese Zweifel
anmelden, ohne Helmut Kohls Verdienste um die Einigung Europas zu
schmälern. Warum wurden andere Gründerväter der EU wie der Franzose
Jean Monnet, der Belgier Paul-Henri Spaak oder der Italiener Altiero
Spinelli nicht mit europäischen Ehren zu Grabe getragen? Was ist mit
Willy Brandt oder Francois Mitterrand, der schließlich mit Kohl
zusammen den Karlspreis für seine europäischen Verdienste empfing? Es
ist guter Brauch, Gebäude und Hallen der Brüsseler und Straßburger
Institutionen nach Persönlichkeiten zu benennen, die für Europas
Geschicke bedeutsam waren. Das wäre auch für Helmut Kohl die
angemessene Form der Erinnerung. Doch er soll, vermutlich auf eigenen
Wunsch und ganz sicher entsprechend den Vorstellungen seiner Witwe,
als erster europäischer Politiker im Parlamentsgebäude in Straßburg
aufgebahrt und dann mit dem Schiff rheinabwärts bis Speyer gebracht
werden. Der Vergleich mit Konrad Adenauers letzter Rheinfahrt von
Köln nach Rhöndorf macht in Wahrheit den gewaltigen Unterschied
deutlich. Kohl begnügt sich nicht mit der deutschen Seite des Rheins.
Dieser Staatsakt wird der erste, aber sicher nicht der letzte seiner
Art werden. Wann immer in Zukunft eine für Europa wegweisende
Politikerin oder ein besonders engagierter europäischer Staatsmann zu
Grabe getragen wird, wird die Frage im Raum stehen, ob sie oder er
nicht der gleichen Ehrung würdig wäre wie Helmut Kohl. Wem da nicht
sofort Namen einfallen, der denke nur an Jacques Delors, Lech Walesa,
Jean-Claude Juncker. Politik ohne Symbole bleibt ab-strakt und
berührt die Menschen nicht, das ist wahr. Europa könnte ein paar
Gefühle gut vertragen. Aber beim Ringen um eine Europäische
Verfassung wurde sehr deutlich, dass viele Bürger der EU staatliche
Embleme nicht oder noch nicht zutrauen. In den Kampagnen in den
Niederlanden und Frankreich, wo die Verfassung in Volksabstimmungen
durchfiel, galten die gleich im ersten Artikel herausgestellten
Symbole - die Flagge mit zwölf goldenen Sternen und die Ode an die
Freude aus Beethovens Neunter - als abschreckender Beleg für einen
drohenden Suprastaat. Ein europäischer Staatsakt setzt genau diese
Staatlichkeit stillschweigend voraus. Helmut Kohl war die Einbindung
eines bescheiden bleibenden Deutschlands in ein stetig enger
zusammenrückendes Europa ein Herzensanliegen. Bilder, die an die
Heimführung eines europäischen Kaisers denken lassen, werden diese
Vision jedoch nicht befördern - eher im Gegenteil.
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