(ots) - Tatjana Gsell und ihre Kolleginnen aus den
Niederungen des Boulevards haben die gesellschaftliche Maskerade zu
völliger Transparenz getrieben. Das Publikum weiß: Nichts ist echt.
Fingernägel, Brüste, Lächeln, jeder Satz signalisiert Blendwerk, das
den Abend nicht überlebt. Ist ja auch egal. Der inszenierungskundige
Bürger nimmt ohnehin nichts ernst. Show um der Show willen. Allein
der naheliegendste Gedanke zählt, eine Minute später vergessen. Unter
Guido Westerwelle ist die FDP zur Tatjana-Gsell-Partei geworden.
Selbst dem wohlwollendsten Beobachter, der verzweifelt nach Resten
des guten alten Liberalismus fahndet, erstarrt in Verzweiflung.
Selten in über 60 Jahren bundesdeutscher Demokratie hat eine Partei
ihre Leere derart offenbart und so schlecht zu überspielen vermocht.
Kaum ein zentrales Politikfeld, auf dem die FDP seit Koalitionsbeginn
einen Hauch von Haltung gezeigt hätte. Tief erschüttert verließ ein
Präside am Montag das oberste Parteigremium und stöhnte leise, dass
Guido Westerwelle und seine Getreuen nur einen Maßstab hätten: die
schnellen, oftmals widersprüchlichen Online-Nachrichten. Genauso
wirkt die liberale Eierei - wie pubertierende Twitter-Politik, die
keine Laune auslässt. Das blinde Starren auf die vermeintliche
öffentliche Meinung entspringt Westerwelles Rot-Grün-Trauma. Hilflos
wie fasziniert musste der ADS-verdächtige Hoffnungsträger erleben,
wie vergleichsweise sicher der eigentlich haltungslose 68er Joschka
Fischer agierte. Den grünen Sündenfall - die Beteiligung am
Bosnien-Einsatz - erklärte Vorvorgänger Fischer mit der deutschen
Verantwortung, dass es nie wieder ein Auschwitz geben dürfe. Beim
Irak-Krieg (Fischer: "I'm not convinced!") wiederum nicht
mitzumachen, erwies sich als historisch richtige Entscheidung, zumal
das UN-Mandat fehlte. Die Westerwelle-FDP ist die einzige deutsche
Partei, die in großen Themen eine doppelte Haltung durch die
Parlamente trägt: Während auch die deutschen Liberalen im
EU-Parlament die Flugverbotszone begrüßten, war die FDP im Bundestag
lieber dagegen. Während die Brüsseler Liberalen eine weitere
Aufstockung des EU-Rettungsfonds kritisierten, stimmte der Berliner
Akklamationstrupp artig mit der Union, anstatt der Chefin kurz und
sachlich mitzuteilen, dass die FDP nicht jeden im Kanzleramt
ausgeheckten Schwenk mitmache, um dafür hinterher auch noch bitter zu
bezahlen. Doch dafür fehlt dem hierarchiehörigen Westerwelle die
Kühnheit eines 68ers. Bezeichnend, dass ausgerechnet zwei
tiefenentschleunigte Anti-Westerwelles die denkwürdigsten Wahlsiege
der letzten Jahre eingefahren haben: Olaf Scholz und Winfried
Kretschmann - ruhig, gelassen, selbstbewusst, weitgehend medial
emanzipiert. Die gröbste Fehleinschätzung wäre es, Guido Westerwelle
für einen Vertreter von Jungem oder Neuem zu halten. Das Gegenteil
stimmt: Er ist einer der letzten, die glauben, der Wähler würde auf
plattfüßige Shows hereinfallen. Das Tempo der digitalen Kommunikation
und die Trägheit effektgetriebener Operettenpolitik sind nicht zu
synchronisieren. Nur Echtheit gewinnt. Eine Tatjana-Gsell-Partei
dagegen erledigt sich selbst.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd(at)axelspringer.de